Page 8 - Robert Charlier: Goethe als Übersetzer (Preprint; 2009)
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Robert Charlier: Goethe als Übersetzer






                        noch deutlich zu erkennen. So besteht Paul Fischers Goethe-Wortschatz von 1929 –

                        ein erstes, noch unvollständiges „Goethe-Wörterbuch“ – aus zwei Teilen. Auf eine
                        A-bis-Z-Lemmatisierung der deutschen Wörter im Hauptteil folgt ein separater
                        alphabetischer  „Fremdwörterteil”. 6  Auch  das  neuere,  eigentliche  Goethe-

                        Wörterbuch  basiert auf diesem Genotypus, indem es alle Vorlagenwörter der
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                        Übersetzungen und Bearbeitungen bucht, die Goethe ins Deutsche übertragen hat.
                        Fremdsprachige Wörter, von Goethe appellativ oder terminologisch gebraucht,
                        werden nach genau festgelegten Kriterien eigens angesetzt.


                                               Goethes Begriff der ,Bearbeitung‘


                        Die Erforschung von Goethes Verhältnis zum Zeitungs- und Zeitschriftenwesen der
                        zweiten Hälfte der 1820er Jahre hat gezeigt, wie eng der Inspirations- und
                        Schaffensprozess des Dichters in der letzten Dekade seines Wirkens mit dem
                        Vorgang der Bearbeitung von Fremdtexten verknüpft blieb. Das Verständnis der
                        Goetheschen Arbeitsweise setzt dabei einen erweiterten Begriff der sprachlichen,

                        literarischen, dramatischen und publizistischen Bearbeitung  voraus. 8  Dieser
                        Arbeitsvorgang umfasst die frühen Übersetzungen nach Diderot oder Voltaire
                        ebenso wie freie Nachdichtungen im lyrischen und dramatischen Genre (wie z. B.

                        Die  Vögel.  Nach dem Aristophanes, 1780 [1787]) oder die dramaturgische
                        Behandlung zeitgenössischer Stücke für das  Weimarer Hoftheater (z. B. August
                        Friedrich Ferdinand von Kotzebues Der Schutzgeist, 1817 [1814]). Die
                        Bearbeitungen von Texten und Werken anderer Autoren ziehen sich wie ein roter
                        Faden durch Goethes Schaffen. Ein Beispiel dafür bildet die Neigung des späten

                        Goethe, eine Menge der aufkommenden Tageszeitungen (darunter Johann
                        Friedrich Cottas Allgemeine Zeitung oder das Morgenblatt für gebildete Stände) und
                        periodische Zeitschriften anhand von Randbemerkungen, Exzerpten und Regesten

                        spontan zu ,bearbeiten‘. Marginalglossen, Notizen und Skizzen aus französischen
                        Zeitschriften wie Le Globe  und Le Temps bildeten die Späne in der Ideenwerkstatt
                        des späten Goethe. Aus Zeitungen und (fremdsprachigen) Zeitschriften bezog er
                        neugierig sein Wissen über die sich beschleunigt modernisierende Welt der
                        frühindustriellen Revolution. 9  Neben den sich im Alter stetig vertiefenden

                        Briefwechseln (z. B. mit Carl Friedrich Zelter oder Thomas Carlyle) bildete die
                        Rezeption und Exzerption der zeitgenössischen publizistischen Druckmedien für den



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