Page 9 - Robert Charlier: Goethe als Übersetzer (Preprint; 2009)
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Robert Charlier: Goethe als Übersetzer






                        längst weltberühmten – in Weimar eher abgeschieden residierenden – Dichter das

                        wichtigste Mittel der Information über die Welt und der Kommunikation mit den
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                        Vertretern des frühen 19. Jahrhunderts.
                           Die Methodologie von Goethes differenziertem Bearbeitungsbegriff kann hier

                        nicht erschöpfend behandelt werden. So ist z. B. die Anzahl von übersetzten
                        Textpassagen aus Werken in fremden Sprachen im dichterischen und vor allem
                        auch im naturwissenschaftlichen Werk Goethes Legion. Ihre Erschließung erforderte
                        eine eigene archivalische Anstrengung, um der vielen übersetzten, fremdsprachigen
                        Binnenzitate im Goetheschen Œuvre habhaft zu werden. So umfasst allein das

                        vorläufige Verzeichnis fremdsprachiger Übersetzungs- und Bearbeitungsvorlagen
                        innerhalb der 2. Abteilung der Weimarer Ausgabe von Goethes Schriften zur
                        Naturwissenschaft knapp 100 Autoren bzw. Titel. Die von Goethe kompilierten,

                        übersetzten  und   anverwandelten   Passagen    stammen    aus   Texten  der
                        naturphilosophischen und wissenschaftlichen Weltliteratur von Aristoteles und Plotin
                        über beide Bacons bis zu Isaac Newton und vielen weiteren, auch zeitgenössischen
                        Naturforschern.  Festzuhalten  bleibt,  dass   der   gleichsam   unterirdische
                        Zusammenhang zwischen Goetheschen Textsorten wie Marginalie, Glosse, Exzerpt,

                        Regest, Schema, Paralipomenon – aber eben auch (fragmentarischer) Übersetzung,
                        bühnengerechter Einrichtung (eines Stücks), freier Nachdichtung oder dichterischer
                        Wiedergabe als konstitutives Moment bedeutender literarischer und gedanklicher

                        Schöpfungen in der Forschung bislang übersehen wurde. So erklärt sich die Genese
                        eines Großteils von Goethes Aphoristik und Spruchdichtung aus diesem Kräftefeld
                        zwischen produktiver Rezeption und rezeptionsorientierter poetischer Produktion.
                        Aus dem marginalen Notat der Übertragung eines Diktums oder einer Gnome
                        altgriechischer, lateinischer oder neusprachlicher Provenienz entstand häufig der

                        Kristallisationskeim für eine spätere „Maxime“ oder „Reflexion“.
                           Dimension und Dynamik der Goetheschen Bearbeitungsprozesse seien an dieser
                        Stelle kurz zusammengefasst. Bei Goethe umfasst der Begriff der Bearbeitung

                        erstens die wörtliche, an ein fremdsprachiges Originalwerk angelehnte Übersetzung
                        sowie die freiere Nachdichtung, insbesondere im dramatischen und lyrischen
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                        Bereich.   Zweitens  bedeutet ,Bearbeitung‘ für den Regisseur und Theaterleiter
                        Goethe die bühnenpraktische Überarbeitung einer Dramen-, Opern- oder
                        Singspielvorlage durch Ergänzung, Kürzung oder Modifikation mit dem Ziel der




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