Page 11 - Kanonbildung. Protagonisten und Prozesse der Herstellung kultureller Identität
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Kanonbildung im Zeitalter der Globalisierung   9

               sellschaften,  vermittels  eines  aufblühenden  literarischen  Zeitschriftenwesens
               und der Entstehung der bürgerlichen Tagespresse das mediale Ferment im Ent-
               stehungsprozess der globalisierten Weltgesellschaft.
                   Vor diesem Hintergrund sollen im Folgenden verschiedene Aspekte der Ka-
               nonbildung beleuchtet werden. Das ›Zeitalter der Globalisierung‹ versteht sich
               dabei in der skizzierten Weise als historisch erweiterter Epochenbegriff. Die Bei-
               träge sind dazu in drei Bereiche gegliedert:
                   (1.) Literarische Kanonbildung und ›Klassizität‹. Der Eröffnungsbeitrag von
               Katharina Mommsen (Palo Alto) über Potsdam und Weimar um 1780 widmet
               sich den kanonpolitischen Aspekten von Friedrichs II. Traktat De la littérature
               allemande. Mommsens Blick richtet sich auf das intrikate und bei weitem noch
               nicht erschöpfend erforschte literarisch-geneaologische Beziehungsgeflecht zwi-
               schen Preußen und dem ›Weimarer Musenhof‹. Theodore Ziolkowski (Prince-
               ton) entwirft mit seinem Beitrag zur Politik der Kanonbildung zwischen 1800
               und 1835 eine kleine Begriffsgeschichte des Paradigmas einer literarischen Klas-
               sik in Deutschland und analysiert das terminologische Bedeutungsfeld von der
               »deutschen« bis zur »Weimarer Hof-« bzw. »Hochklassik« innerhalb der germani-
               stischen Fachgeschichte. Kanonisierung erweist sich dabei einmal mehr als dyna-
               mischer Begriff. Dieser prozessuale Wesensaspekt aller Kanonisierung setzt stets
               bestimmte Akteure und ›Agenten‹ voraus, die Robert Charlier (Berlin) in seinem
               Beitrag näher charakterisiert. Dabei geht er der Frage nach, welche Rolle indivi-
               duelle oder institutionelle Vermittler im Prozess der Klassikergenese spielen. Als
               repräsentatives Beispiel für das Wirken solcher »Klassikermacher« dient die Kano-
               nisierung Goethes in Geschichte und Gegenwart des Berliner Goethe-Kults.
                   (2.) ›Fremde‹ Kanonbildungen und die Pluralität von ›Klassiken‹. Einen zen-
               tralen Aspekt der Kanonisierungsproblematik in (vermeintlich) kulturkämpfe-
               rischen Zeiten wählt Anke Bosse (Namur) mit ihrer Analyse der Wahrnehmung
               literarischer Fremdkanons am Beispiel von Goethes Orientrezeption. Kritisch
               überprüft  Bosse  damit  zugleich  literaturwissenschaftliche  Theoriebildungen,
               wie z. B. die Deutung der Kanonbildung als »Invisible-hand-Phänomen« (Si-
               mone Winko) nach Adam Smith. Mit entgegengesetzter Zielrichtung hinter-
               fragt Waltraud Maierhofer (Iowa) in ihrem Beitrag drei markante Fälle von
               »Kanonausschluss«  im  Umfeld  Goethes.  Anhand  der  je  unterschiedlichen
               Exklusionsschicksale von Caroline Jagemann, Christian August Vulpius und
               Angelika Kauffmann rücken dabei nicht nur wichtige Gender-Aspekte in den
               Vordergrund. Indem sie nach den Intentionen und Mechanismen der Verwei-
               gerung von Kanonizität fragt, invertiert Maierhofer zugleich das Leitthema. Die
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