Page 20 - Kanonbildung. Protagonisten und Prozesse der Herstellung kultureller Identität
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18                      Katharina Mommsen

                 büttel, als sich dessen Hoffnung auf eine Stelle an der Berliner Königlichen
                 Bibliothek zerschlug, weil Voltaire Friedrich ungünstig gegen ihn beeinflusst
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                 hatte.  So kam es, dass Lessing in Wolfenbüttel unter anderem Werke wie Emi-
                 lia Galotti (1772) und Nathan der Weise (1779) schaffen konnte.
                    Übrigens initiierte die Braunschweiger Herzogin 1780 sofort eine Erwi-
                 derung auf ihres königlichen Bruders De la littérature allemande. Der von ihr
                 damit betraute, inzwischen 71-jährige J. F. W. Jerusalem verfasste die Entgeg-
                 nung in kürzester Frist und veröffentlichte sie mit einer Widmung an Herzo-
                                                                          19
                 gin Charlotte unter dem Titel Über die teutsche Sprache und Literatur.  Doch
                 trug er seine zahlreichen sachlichen Einwände aus Furcht vor dem mächtigen
                 preußischen König so devot, zaghaft und gewunden vor, dass jüngere Autoren
                 darüber spotteten. Notabene musste Jerusalems Erwiderung, um dem König
                 vorgelegt werden zu können, erst ins Französische übersetzt werden; und ob er
                 sie dann zur Kenntnis nahm, wird bezweifelt.


                 18  Voltaires Ranküne ging zurück auf seine Berliner Zeit im Juli 1750. Der damals in Berlin
                    als Journalist tätige 21-jährige Lessing war sorglos mit Aushängebögen des Siècle de Louis
                    XIV umgegangen, die ihm Voltaires Sekretär Richier de Louvain anvertraut hatte, so dass
                    sie Unbefugten vor Augen kamen. Der zutiefst empörte Voltaire entließ daraufhin Richi-
                    er und bezichtigte Lessing des Diebstahls. Voltaires Brief an Lessing vom 1. Januar 1752
                    und Lessings Brief an Richier gleichen Datums oder etwas früher s. in: Œuvres Complètes
                    (wie Anm. 1), vol. 96, pp. 371-374. – Des Königs Aversion gegen Lessing ging so weit,
                    dass er die Ernennung Lessings zum Auswärtigen Mitglied der Königlich Preußischen
                    Akademie der Wissenschaften zu Berlin zum Anlass nahm, die Aufnahme deutscher
                    Schriftsteller prinzipiell zu untersagen. »Friedrich erschien zu den Sitzungen [der König-
                    lich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Anm. K. M.] nicht in Person, sondern
                    ließ seine Reden, Nachrufe und Traktate im Plenum verlesen und danach publizieren.
                    Während des Siebenjährigen Krieges traten die beiden Klassen der Akademie, die älte-
                    re, physikalisch-mathematische und die unter Friedrich neubegründete philosophische,
                    nicht mehr regelmäßig zusammen. 1764 übernahm der König selbst die Leitung und be-
                    rief die Mitglieder nach eigenem Gutdünken, allerdings nach Konsultationen mit dem
                    berühmten Enzyklopädisten d’Alembert, den er vergeblich als Präsidenten der Akade-
                    mie zu gewinnen versucht hatte. Vorausgegangen war diesem entschlossenen Zugriff des
                    Königs die Kooptation Lessings, die auf sein entschiedenes Mißfallen stieß und ihn dazu
                    veranlaßte, die Aufnahme deutscher Schriftsteller prinzipiell zu untersagen.« (Johannes
                    Kunisch, Friedrich der Große, Der König und seine Zeit. München 2004, 289; Kapitel:
                    »Pflege der Wissenschaften«) – Lessing wusste: »Der König bezahlt keinen, der unabhän-
                    gig sein will!« (Gotthold Ephraim Lessing in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, darge-
                    stellt von Wolfgang Drews, hg. v. Kurt Kusenberg. Reinbek bei Hamburg, 1962, 42).
                 19  Johann Friedrich Wilhelm Jerusalem, Über die teutsche Sprache und Literatur. An Ihro
                    Königliche Hoheit, die verwitwete Frau Herzogin von Braunschweig und Lüneburg,
                    Berlin 1781.
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