Page 10 - Kanonbildung. Protagonisten und Prozesse der Herstellung kultureller Identität
P. 10

8                 Robert Charlier und Günther Lottes

                 Akteuren in Literatur und Wissenschaft in den Rang von Klassikern; und 2. auf
                 die Herausbildung von bestimmten Kanons, die sich in der Regel in einem Œu-
                 vre, einem Korpus oder in einem bzw. mehreren Texen manifestieren.
                    Methodisch bedeutet dies die Verbindung von Theoriebereichen, die bis-
                 lang weitgehend unverbunden nebeneinander existierten. Es handelt sich dabei
                 um die Zusammenführung der germanistischen Klassikforschung mit der ur-
                 sprünglich kulturpolitisch motivierten Kanondebatte der sogenannten Canon
                 Wars, die in den USA von Mitte der 1980er bis Mitte der 1990er Jahre in einer
                 Reihe von Publikationen kulminierte. Bekanntestes Manifest dieser Konjunk-
                 tur des Kanonthemas ist Harold Blooms The Western Canon: The Books and
                 School of the Ages (1994). Um die Millenniumswende drängte diese Diskurswel-
                 le auch nach Europa. Vor allem Literatur- und Kulturwissenschaftler reagierten
                 mit einer ganzen Anzahl von Veröffentlichungen zur bildungspolitischen und
                 literarischen Kanonbildung. Zu einer systematischen Verzahnung von Kanon-
                 theorie und Klassikforschung kam es dabei jedoch nicht.
                    Mit Blick auf die amerikanische Provenienz des Kanonthemas offenbart die
                 Verquickung beider Forschungsfelder eine bemerkenswerte Symmetrie. Es war
                 nämlich die amerikanische Germanistik, die mit dem Second Wisconsin Work-
                 shop Anfang der 1970er Jahre die kritische Revision des Epochenparadigmas
                 ›deutsche/Weimarer Klassik‹ einleitete und die innovativen Forschungen zur
                 sogenannten »Klassik-Legende« hervorbrachte (vgl. den Beitrag von Theodo-
                 re Ziolkowski). Eine weitere fachübergreifende Synergie ergibt sich, indem im
                 vorliegenden Band die philologische Kanon- und Klassikforschung mit dem
                 Ansatz zu einer ›Klassikertheorie‹ aus sozialwissenschaftlicher Sicht in wechsel-
                 seitige Anregung versetzt werden (vgl. den Beitrag von Alfred K. Treml).
                    Der Begriff der Globalisierung erscheint dabei mit Blick auf alle Beiträge
                 als sehr fruchtbar. Denn wie kaum eine andere Epoche erweist sich die faktisch
                 schon früher, begrifflich allerdings erst seit dem frühen 20. Jahrhundert als Goe-
                 thezeit kanonisierte Zeitspanne zwischen 1770 und 1830 als Ursprungsmoment
                 der modernen bürgerlichen Informations-, Medien- und Wissensgesellschaft.
                 Ob  die  Epochen  der  Aufklärung  und  der  literarischen  Klassik  in  Deutsch-
                 land dabei lediglich als historische Parallelen einer Art Proto-Globalisierung
                 aufzufassen oder aber im Gesamtkontext einer etwa 200-jährigen modernen
                 Über-Epoche – einem ›goldenen Zeitalter‹ des Westens  – zu lesen sind, muss
                 zwangsläufig in der Beschränkung des vorgegebenen Rahmen offen bleiben.
                 Ausgehendes 18. und beginnendes 19. Jahrhundert bildeten jedenfalls durch
                 die zunehmende Alphabetisierung und die expansive Gründung von Lesege-
   5   6   7   8   9   10   11   12   13   14   15