Page 9 - Kanonbildung. Protagonisten und Prozesse der Herstellung kultureller Identität
P. 9

Kanonbildung im Zeitalter der Globalisierung   7

                              Robert Charlier und Günther Lottes

                      Kanonbildung im Zeitalter der Globalisierung




               In Zeiten nie dagewesener Anfechtungen der Werte der europäischen Aufklä-
               rung durch antiwestliche und kulturkämpferische Strömungen beleuchtet der
               vorliegende Sammelband die Protagonisten und Prozesse der Herstellung kul-
               tureller Identität durch die Konstruktion von Kanons, so die dudenkonforme
               Mehrzahl für die usuelle Verwendung des Wortes in der hier gemeinten Bedeu-
               tung: mustergültige Auswahl von (literarischen) Texten. Der Schwerpunkt liegt
               dabei auf Literatur und Geschichtsschreibung, insbesondere auf der Literatur-
               geschichte des späten 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts.
                   Angesichts  der  gegenwärtigen  kultur-,  medien-  und  bildungspolitischen
               Umwälzungen erscheint dazu eine Berücksichtigung der vergleichsweise jungen
               Kanonforschung unumgänglich. Dies insbesondere vor dem Hintergrund der
               Tatsache, dass sich Wertesysteme und Identifikationsangebote im Zeitalter der
               Globalisierung zu Beginn des 21. Jahrhunderts in einer historisch noch nicht
               dagewesenen Weise im Umbruch befinden. Hierzu gehört die enthierarchisierte
               Allverfügbarkeit klassischen Bildungswissens im Internet und den neuen Me-
               dien sowie die Kanondiskussion an Schulen und Universitäten. So verstehen
               sich die folgenden Beiträge aus Germanistik, Philosophie, Erziehungs- und Ge-
               schichtswissenschaft als aktuelle Anregung zum transdisziplinären Austausch
               über ein zentrales Thema der globalisierten Welt.
                   Die  Erhebung  eines  (literarischen)  Autors  in  den  Rang  eines  Klassikers
               und die Bildung eines bestimmten Kanons mustergültiger Werke erscheinen
               zunächst nicht zwingend aufeinander bezogen. Operationalisiert man jedoch
               beide Vorgänge in einem gemeinsamen Prozessmodell, so ergeben sich Auf-
               schlüsse für das tiefere Verständnis beider. Ausgangspunkt für dieses integrative
               Modell bildet der Begriff der Herstellung. Als intentionaler Begriff setzt Herstel-
               lung soziale Akteure mit ihren Einzelwillen und subjektiven Entscheidungen
               voraus (»etwas wird hergestellt«). Als resultativer und damit perfektiver Begriff
               signalisiert er die historische Abgeschlossenheit eines Prozesses, die Macht des
               Faktisch-Objektiven  (»etwas ist hergestellt«).
                   In einem weiteren Schritt wird der Begriff der Herstellung auf zwei zentrale
               Vorgänge der Konstituierung kultureller Identität bezogen: 1. auf die Konstruk-
               tion von (literarischer) Klassizität, das heißt die Erhebung von herausragenden
   4   5   6   7   8   9   10   11   12   13   14