Page 15 - Robert Charlier: Google statt Goethe?
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I Zeitalter der globalen Allverfügbarkeit von Information und der
m
rasanten Rationalisierung
von Auswahlverfahren durch das
Internet
gelangten Akteure
gekannter
und
Kanonbildung
zu nie
Prozesse
der
Bedeutung. Dies gilt zum einen für die Kanonisierung von Wissen: Was ist
›Fakt‹? Hat ein Dichter wie Homer tatsächlich gelebt? Wo lese ich das
überprüfbar und zuverlässig nach? Berechtigt erscheint die Diagnose auch im
Bereich der Zuschreibung von Wert und Bedeutung: Was ist wirklich wichtig?
Welcher Autor ist herausragend, welches literarische oder künstlerische Werk
genießt überzeitliche Geltung oder sogar ›ewige‹ Gültigkeit? Warum werden
Goethe, Schiller oder Shakespeare als ›Klassiker‹ bezeichnet, Autoren wie
Franz Kafka oder Thomas Mann dagegen eher nicht? Wie funktionieren
solche Prozesse der Kanonbildung? Möglicherweise ist Kanonisierung ja auch
eine Frage der Technik. Können moderne Suchmachinen die Rolle klassischer
Autoritäten übernehmen, wie einst Verleger, Kritiker, Liebhaber, Lehrer,
Leser oder sogenannte Experten? Aktualisieren algorithmische Ranking lists
jahrhundertealte Gesetzmäßigkei ten der Tradierung von Kultur − oder stellen
sie etwas fundamental Neues dar? Im Folgenden fasse ich eine Auswahl von
Versuchen nach Stichwörtern zusammen, um auf solche Fragen zu antworten.
Die formale Anregung dazu verdanke ich dem Beitrag »Kanonglossar« von
Hermann Korte (in: Arnold 2002, 25-38; s. Bibliografie, Punkt A.II.1). Der
einleitende Essay ist die überarbeitete und leicht gekürzte Fassung eines
Aufsatzes, der bereits 2008 im Rahmen eines Sammelbandes erschien
(Nachweis unter Punkt A.II.8.2). Die systematisierte Auswahlbibliografie
richtet sich als vertiefende Weiterführung an Interessierte. Eine kommentierte
Auswahl geprüfter Online-Ressourcen zur Kanonbildung im digitalen
Zeitalter beschließt das Buch.
Der Verfasser
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