Page 20 - Robert Charlier: Google statt Goethe?
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Zu (1). Das kulturelle Kanonprinzip ist in der globalisierten Informations-
               und Mediengesellschaft des 21. Jahrhunderts in den vielfältigsten Formen
               und Funktionen allgegenwärtig. Tradierte Kanonformen, wie sie Klassiker-
               ausgaben oder akademische Lektürelisten darstellen, stehen heute neben
               technischen Agenten der Kanonisierung. Zu nennen sind darunter vor allem
               die Suchmaschinen mit ihren Auswahl- und Bewertungsprozeduren, die auf
               dem Zusammenspiel von Mathematik und Semantik basieren. Religiöse und
               literarische Kanonbildung haben sich über Jahrhunderte als wirkmächtiger
               Faktor im Auwahlprozess kultureller Sinnstiftung erwiesen. Auch für die Iden-
               titätsfindung hat dieser Vorgang der Selbstverständigung und Fremdabgrenzung

               einer Sprach-, Kultur- oder Glaubensgemeinschaft zentrale Bedeutung. Der
               Begriff des Kanons versteht sich daher eher in einem pluralen Sinne. In der
               globalisierten Weltgesellschaft leben wir in einem Kontinuum unterschied-
               lichster paralleler und konkurrierender Kanonmanifestationen. Fast alle Kul-
               turkreise kultivieren eine bestimmte Form kanonisierender Wertschätzung.
               Zwar reklamieren vergleichende Religionswissenschaftler für das Text- und
               Schriftenverständnis von Buddhismus oder Hinduismus eher durchlässigere
               und ›offene‹ Kanonmodelle, die sich kaum mit dem »Assmannsche[n] Kanon-
               Begriff« decken (Deeg/Freiberger/Kleine 2011, S. xii-xxix; hier xiii). An
               der Bedeutung eines wie auch immer sich manifestierenden ›kanonischen‹
               Prinzips für die meisten Weltreligionen und Kulturen kann allerdings kaum
               Zweifel bestehen.

                  Möglicherweise besitzt es sogar den Rang einer anthropologischen Kon-
               stante. Denn so gut wie jede Epoche oder Hochkultur kennt und bewahrt
               (in der Regel bis heute) ein personal gedachtes oder materiell bzw. textuell
               manifestes Heiliges oder Höchstes. Dieses Kanonisch-Klassische mag sich
               verkörpern in Gestalt heroischer, auch vergötterter Individuen. Oder es
               repräsentiert sich in Gestalt von figürlichen bzw. bildlichen Artefakten oder
               in Form von Textkorpora eines berühmten Weisen, Dichters oder Denkers.


                  Zu (2). Die Übertragung des Kanonisierungsprinzips in den Bereich
               der exakten Wissenschaften lässt sich sehr gut im Anschluss an die sozial-
               wissenschaftliche Theoriebildung verfolgen. So entlehnen systemtheoretisch
               inspirierte Ansätze ihre Begriffe aus der sogenannten allgemeinen Evolutions-
               theorie, wenn sie bei der Klassikergenese mit Termini wie Selektion, Varia-
               tion, Reproduktion und Stabilisierung argumentieren (Treml 1997, S. 27-33).



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