Page 247 - Robert Charlier: Heros und Messias (1999)
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D as Fehlen der Trauer 245
die Hölderlin ganz unwillkürlich in seiner Reflexion „Über Achill“ (1) von 1795
vorwegnimmt:
Mich freut es, daß du von Achill sprachst. Er ist mein Liebling unter den Helden, so
stark und so zart, die gelungenste, und vergänglichste Blüte der Heroenwelt, „so für
kurze Zeit geboren “ nach Homer, eben weil er so schön ist. [...] Von Ulyß konnte er
Sachen genug beschreiben. Dieser ist ein Sack voll Scheidemünze, wo man lange zu
zählen hat, mit dem Gold ist man viel bälder fertig. (KHA II: 510, ZZ. 1-5; 10-12 -
Hervorhebung original)
Die vergleichenden Heroenkataloge der Achill-Fragmente226 bezeugen die eigent
liche Zielrichtung von Hölderlins Suche: von keinem anderen Helden ist er so
fasziniert wie von Achill.
Erst der Odysseus „von morgen“, ein Heros wie Achill oder Herakles, macht
die ikarisch-herakleische Synthese greifbar. Um Bild und Idee eines unsterblichen
Herosmessias aufrecht zu erhalten, der „zu Zeiten“ (‘Chiron’, V. 2) kommen
wird, bedarf es des leidenden und sterblichen, kentaurischen Dichter-Ichs, das
letztlich tragisch untergeht. Das erinnert an das lyrische Ich der Ode ‘An
Eduard’/'Die Dioskuren’, das sich einem heroischen Du im Bild der mythischen
Zwillinge entgegensetzte: der unsterblich herakleische Part bedarf des ikarisch
geistigen.227 Wie in der Frühphase die Geistseite nach einem heldenhaften
Gegenüber verlangte, so wird in der Spätzeit das Scheitern (Chiron) oder Aushar
ren (Odysseus) aufgewogen und aufgehoben von Erfüllungsfiguren, die wie Achill
und Herakles den Ausgleich vollziehen. Kunst, Erziehung, Bildung haben dabei
eine bloß transitorische Funktion; finalen Charakter hat allein die politisch-tätige
Umwandlung der Welt.228
226 Vgl. auch „Über Achill“ (2): „Am meisten aber lieb’ ich und bewundere den Dichter aller
Dichter um seines Achilles willen. Es ist einzig, mit welcher Liebe und welchem Geiste er
diesen Charakter durchschaut und gehalten und gehoben hat. Nimm die alten Herrn
Agamemnon und Ulysses und Nestor mit ihrer Weisheit und Torheit, nimm den Lärmer
Diomed, den blindtobenden Ajax, und halte sie gegen den genialischen, allgewaltigen, me
lancholischzärtlichen Göttersohn, den Achill, gegen dieses enfant gate der Natur, und wie
der Dichter ihn, den Jüngling voll Löwenkraft und Geist und Anmut, in die Mitte gestellt
hat zwischen Altklugheit und Roheit und du wirst ein Wunder der Kunst in Achilles Cha
rakter finden.“ (KHA II: 510, ZZ. 14-25)
227 Vgl. ‘An Eduard“ I: „Und so er mir’ s geböte, dies Eine noch, / Mein Saitenspiel, ich wagt’
es, wohin er wollt’, / Und mit Gesänge folgt’ ich, selbst in’s / Ende der Tapferen ihm
hinunter.“ (VV. 9-12) Und: „Wenn ich so singend fiele, dann rächtest du / Mich mein
Achill! und sprächest: ‘er lebte doch / Treu bis zuletzt!’ das ernste Wort, das / Spräche
mein Feind, und der Totenrichter!“ (VV. 25-28)
228 Botho Strauß fasziniert ebenfalls die messianische Übertragbarkeit der Odysseusfigur der
Ithaka-Episode: „Ithaka ist der Ort der Wiederkehr des Helden von Troja und der
Wiederherstellung seines Königtums. [...] Der Weltfriede, das Verheißungsland, das
davidsche Königtum, die alte Stammesgliederung des Volks, die Heilige Stadt, der Tempel,
der Kult: Wiederherstellung von allem, die Endzeit wird in die Urzeit münden, so