Page 242 - Robert Charlier: Heros und Messias (1999)
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240 V. K apitel: D er H eros als M essias
zu besteigen, verlangt Chiron, daß sein Schüler in die ,,rechte[n] Stapfen“ (V. 43)
seines Meisters trete und dessen geistig-körperliche Kontur annehme. Dies gleich
sam als ein herakleischer Ritter im ,,[H]arnisch[e]“ (V. 49), der eine ikarische
Geistesbildung erwerbe und den verfehlten Ausgleichsversuch seines Lehrers über
flügeln möge, also eine gelungene Versöhnung der Gegensätze erstrebe.
Die Reitersymbolik impliziert zuletzt noch eine weitere apokalyptische Be
deutung Chirons: als sublimierter apokalyptischer Reiter nach der fünften
Posaune aus der Offenbarung des Johannes (siehe auch die Abbildungen Nr. 6
und 7).222
wieder geheilet werden. Hierzu kam, daß er unsterblich war, indem er von einem derglei
chen Vater war gezeuget worden. Er bath daher endlich selbst den Jupiter aufs
instaendigste, daß er ihn nur moechte sterben lassen, welches er auch von ihm erhielt. [...]
Jedoch geben auch einige vor, daß er sich nicht solcher Wunde wegen, sondern weil er des
langen Lebens satt gewesen, den Tod von den Goettern erbethen habe.“ (Hederich 1770,
Sp. 709)
222 „Und die Heuschrecken sahen aus wie Rosse, die zum Krieg gerüstet sind, und auf ihren
Köpfen war etwas wie goldene Krönt >i, und ihr Antlitz glich der Menschen Antlitz; und
sie hatten Haar wie Frauenhaar und Zähne wie Löwenzähne und hatten Panzer wie eiserne
Panzer, und das Rasseln ihrer Flügel war wie das Rasseln der Wagen vieler Rosse, die in den
Krieg laufen, und hatten Schwänze wie Skorpione und hatten Stacheln, und in ihren
Schwänzen war ihre Kraft, Schaden zu tun den Menschen fünf Monate lang [...].“ (Offb 9,
7-10)
Die Hervorhebungen veranschaulichen die „kentaurische“ Physiognomie der apoka
lyptischen Reiter. Sicher haben mythische Mischwesen aus der hellenistischen
Bildungswelt des Verfassers der Offenbarung für diese Bilderfindungen Pate gestanden. Es
ist schwer vorstellbar, daß Hölderlin diese apokalyptische Kontur seines Kentauren nicht
zumindest im Hintergrund mitdachte. Nach der mythographischen Überlieferung der Zeit
soll Chiron zur Belohnung für sein edles Wirken von Jupiter am Himmel als Sternbild des
Schützen verewigt worden sein (vgl. Hederich 1770, Sp. 710). Illustrationen zeigen den
kentaurischen Schützen mit Pfeil und Bogen bewehrt. Ob dabei eine Ähnlichkeit mit
Dürers apokalyptischen Reitern vorliegt, sei dem Betrachter überlassen. Die Übertragung
des Reiterbildes auf Achill (jetzt nicht im rächenden, sondern im triumphierenden Sinne)
am Ende von ‘Chiron’ erinnert im übrigen an ein weiteres Gesicht aus der Offenbarung:
„Und ich sah den Himmel aufgetan; und siehe, ein weißes Pferd. Und der darauf saß, hieß:
Treu und Wahrhaftig, und er richtet und kämpft mit Gerechtigkeit [...] Und aus seinem
Munde ging ein scharfes Schwert, daß er damit die Völker schlage; und er wird sie regieren
mit eisernem Stabe; und er tritt die Kelter, voll vom Wein des grimmigen Zornes Gottes,
des Allmächtigen [...].“ (Offb 19, 11 und 15)