Page 244 - Robert Charlier: Heros und Messias (1999)
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          Chiron,  der  hesperische  Prophet  in  seiner  Zerrissenheit,  führt  die  Gewißheit  der

          messianischen  'Weheinheit im  Munde  und  den  Glauben  an  den  herakleischen
           „Retter“  und  „Befreier“  im  Herzen.  Der  mythisch-tragische  Zusammenhang  der
          antiken Welt  mag zerfallen und die Nacht für den  antiken  Göttertag mit der Ge­
          burt Christi angebrochen sein (vgl. ‘Brot und Wein’, VV.  55-72). Die messianisch-
          prophetische  „Wahrsagung“  des hesperischen  Christentums  aber  „Zerreißt  nicht“
          (V. 50f.).  Eine  messianische  Zukunft  ist  dem  jungen  Achill  jedenfalls  gewiß.
          Chiron  verheißt  Achill,  das  tragische  Los  des  einzelnen  („Verwundung“,
          „Vergiftung“)  und  der  Menschheit  (geschichtliche  Nacht)  geistig  und  tätig  zu
          überwinden  und  „umsonst  nicht“  (V. 51)  den  Tag von  „Herakles  Rückkehr“  zu
          erwarten (V. 52).
              Auf  die  mythomessianische  Doppelstruktur  der  Verse  35f.  („Wenn  einer
          zweigestalt  ist,  und  es  /   Kennet  kein  einziger  nicht  das  Beste“)  verweist  im  Zu­
          sammenhang mit dem Paulusbrief (Phil  1,  9f.)  im übrigen  auch der ursprüngliche
          Titel der Überarbeitung der ersten Fassung der Ode.  Aus  ‘Der blinde Sänger’,  ei­
          nem  Titel,  der eindeutig der Sphäre des Mythisch-Tragischen  zuzuordnen  ist  (als
          Anspielung auf Homer,  Oedipus  oder  Aias)  wurde  der  Titel  ‘Täglich  Gebet’  er­
          wogen,  eine  Wendung,  die  nicht  nur  die  christliche,  sondern  insbesondere  auch
          die messianisch-eschatologische  Dimension  der  Ode  betont  (FHA  10:  257,  Z.  1).
          Denn die Dringlichkeit, unter die dieser Odenentwurf damit leitmotivisch gestellt
          wird,  appelliert  an  die  täglich  mögliche  Gegenwart  des  ersehnten  Erlösungs­
          moments.  Dieser  Gebetscharakter  des  Gedichts  verweist  auf  das  typisch
          paulinische  Dilemma,  zwischen  apokalyptischer Nähe  und  pneumatischer  Ferne
          vermitteln zu müssen.  Im  ersten Korintherbrief gibt  Paulus  dieses  dilemmatische
          Geheimnis des Glaubens preis:
              Siehe,  ich  sage  euch  ein  Geheimnis:  Wir  werden  nicht  alle  entschlafen,  wir  werden
              aber  alle  verwandelt  werden;  und  das  plötzlich,  in  einem  Augenblick,  zur  Zeit  der
              letzten  Posaune.  Denn  es  wird  die Posaune  erschallen,  und  die  Toten  werden  aufer­
              stehen unverweslich, und wir werden verwandelt werden.  (1 Kor  15, 51f.)
          Einerseits  begründet  Paulus  mit  seiner  pneumatischen  Zwei-Leiber-Lehre  ein
          Denkmodell,  das  gegen  alle  historisch-zeitlichen  Zweifel  und  realhistorische
          Überprüfungen immunisiert;  andererseits hat auch Paulus noch  an der apokalyp­
          tischen Hoffnung und seiner judenchristlichen Umgebung teil,  wonach das  Ende
          noch  zu Lebzeiten  seiner  Zeitgenossen  stattfinden  wird  (vgl.  Klausner  1950:  497-
          499).
              Diese Teilhabe des Apostels am apokalyptischen Denken des Judentums und
          die Konsequenzen für die Politische Theologie des Paulus rückte vor allem für die
          moderne  jüdische  Religionswissenschaft  in  den  Vordergrund  (vgl.  Taubes  1993).
          Zum einen steht die Entpolitisierung der jüdischen Messiasidee im Blick auf Reich
          und Staat durch Paulus  außer Frage  (vgl. z. B.  Klausner 1950:  443).  Zum anderen
          hat Jacob Taubes in seiner großartigen Heidelberger Lektüre des Römerbriefes die
          Spuren einer subversiven  „politischen  Theologie  des Paulus“  ausgemacht, die  zu­
          tiefst jüdisch geprägt und alles andere als obrigkeitshörig ist  (vgl.  Taubes 1993:  36-
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