Page 245 - Robert Charlier: Heros und Messias (1999)
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Paulus und Chiron 243
75). Auch wenn Taubes’ „subversive“ Interpretation des Römerbriefes sehr
spekulativ ist (der gesicherte Paulustext affirmiert ausdrücklich die römische Ob
rigkeit), kann sie zur Verstärkung der messianischen Lesart des Kentaurengedichts
herangezogen werden. Die paulinische Doppeldisposition hallt gewissermaßen
schon (und noch) in den apokalyptischen Sinneseindrücken Chirons nach und
durchfiebert seine katastrophischen Bilder:
Dann hör’ ich oft den Wagen des Donnerers
Am Mittag, wenn er naht, der bekannteste,
Wenn ihm das Haus bebt und der Boden
Reiniget sich, und die Qual Echo wird.
Den Retter hör’ ich dann in der Nacht, ich hör’
Ihn tötend, den Befreier, und drunten voll
Von üpp’gem Kraut, als in Gesichten,
Schau ich die Erd’, ein gewaltig Feuer; (VV. 25-32)
Das „naht“ (V. 26) korrespondiert mit dem „Nah ist / Und schwer zu fassen der
Gott“ am Beginn von ‘Patmos’ I (VV. lf.). Daß der „Befreier“ „tötend“ kommt
(V. 30) und die „Erd’ ein gewaltig Feuer“ (V. 32) wird, zeigt den physischen und
politischen Charakter des halluzinierten Endes: Es kommt zu Verdammung und
Verwerfung. Auferstehung der einen heißt Untergang der anderen, eine eminent
politische Aussage, die übrigens in der Erstfassung noch prägnanter gefaßt ist:
„[...] ich hör / Ihn tötend, den Befreier, belebend, ihn / Den Donnerer [...]“ (‘Der
blinde Sänger’, VV. 29-31). Chirons Vision vom irdischen Reiche Christi kennt
das Feuer von Strafe und Vernichtung, ganz im Gegensatz zum zahnlosen Chi-
liasmus der Pietisten (vgl. Gaskill 1978: 26). Das Motiv des „Wagens“ verstärkt
noch die diesseitige Wirkmächtigkeit des Göttlichen. Schon seit Urzeiten
verknüpfen sich im Bild des „Wetter“- und „Königswagens“ natürliche, göttliche
und menschliche Herrschaftssphäre.223 *
Damit schließt Hölderlin in ‘Chiron’ an eine ganz frühe Gestaltung konven
tioneller Apokalyptik in seinem Jugendgedicht ‘Die Bücher der Zeiten’ an. Stellt
man die Kentaurenode als apokalyptisches Spätgedicht diesem millenaristischen
Früh werk gegenüber, so ergibt sich eine Konstanz und Konsequenz für
Hölderlins messianisches Denken, die in der Forschung bisher nicht gesehen
wurde: Parallel zum „enlightened utopianism“ (Gaskill 1978: 26) der Tübinger
Hymnen verläuft auch ein Strang apokalyptischer Verdammungsmetaphorik. Die
eindimensionale Interpretation von Hölderlins Messianismus im Banne der pieti-
223 Im Wagenbild ist Hölderlins synkretistische Phantasie geradezu fokussiert: Der Wagen des
Zeus in ‘Chiron’ ist nicht nur heidnischer „Wetterwagen“, sondern auch Streitwagen, der
von gleichsam „pharaonisch“ strafenden Heerscharen widerhallt. Das Wagenmotiv ist ein
Musterbeispiel für Hölderlins doppelte Bilderwelt aus mythischen und messianischen
Valenzen (zur nur christlichen Deutung des „Wagens“ in ‘Der Einzige’, W . 79f. vgl.
Lachmann 1966: 99ff.; zur mythischen Deutung des Motivs vgl. Schmidt in K H A I: 944f.).