Page 246 - Robert Charlier: Heros und Messias (1999)
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          stisch-pneumatischen  Apokatdstasis,  der  „Wiederbringung“  aller  Dinge  ohne
          katastrophalen  Umbruch  (vgl.  Rosteutscher  1966,  Gaskill  1978,  Schmidt  1990,

          Schäfer 1991) ignoriert dieses Element der Apokalypsis: Hölderlin beschwört nicht
          nur  die  einende Wiederbringung,  sondern  auch  die  scheidende Verdammung.


          Hölderlin  bleibt  der  Gedankenwelt  einer  diesseitigen  Reichserwartung  samt
          Feuergericht  und  Umschichtung  der  physischen  und  politischen  Welt  letztlich
          treu.  Zwischen  ‘Die  Bücher  der  Zeiten’  (1788)  und  ‘Chiron’  (1802/03)  mögen
          poetologisch und philosophisch Welten liegen  (hier konventionelle Reimhymnik,
          dort  die Keimzelle  der  modernen  Lyrik).  Beide  Texte  nähren  jedoch  ihre Bilder­
          und Gedankenwelt aus dem gleichen Wurzelgrund apokalyptischer Literatur.


                        3.  U ly ß , Chiron, Achill oder das Fehlen der Trauer

          Zum Abschluß möchte ich noch einmal die proteischen Helden Odysseus („Ulyß“)


          und  Chiron  vergleichen.  Die  herakleischen Züge  Achills  sind  dabei  der
          Ausgangspunkt.  Auch  Schillers  Orestanspielung  rückt  dadurch  noch  einmal  in
          den Blick.
              In der Schlußstrophe vertröstete Chiron seinen  Zögling Achill,  indem er ihn
          ermutigte,  sich in der Waffenkunst wie  in  geistigen Dingen  zu  schulen:  „[...]  und
          umsonst  nicht  wartet  /   Bis  sie  erscheinet,  Herakles  Rückkehr.“  (VV. 51f.)  Me­
          dium der Überwindung dieser Zeit des Wartens und des Leidens  bildete  Chirons
          Heldenerziehung. Die intellektuell und athletisch angelegte Erziehung des Knaben

          suggeriert  den  Gedanken  einer  heroischen  imitatio des  Herakles  durch  den  klei­
          nen  Achill,  der  die  ästhetisch-heroische  Erziehung  des  Weisen  genießt.  Wie  der
          große Halbgott soll der sterbliche Achill sich auf das Kriegshandwerk vorbereiten,
          um  am  Ende  der  Tage,  wenn  Herakles,  der  „Befreier“  und  „freundliche  Retter“
          kommt, bei der Neuordnung der Welt aktiv dabei zu sein.
              Das  erinnert,  wie  schon  im  Kapitel V.2  erwähnt,  an  die  Orestfigur  in
          Schillers Neuntem Brief der Ästhetischen Erziehung mit dem einzigen Unterschied,
          daß  Achill  nicht  wie  Orest  in  die  Fremde  ziehen  muß  („unter  griechischem
          Himmel“),  um  als  Heimkehrender  die  Mißstände  im  eigenen  Land  zu  beheben
          und  das  Unrecht  zu  rächen.225  Vielmehr  bleibt  er  als  Heranwachsender  dem
          heimischen  Entfremdungszustand  verhaftet.  Er  soll  sich  körperlich  üben  und
          geistig lernen,  während  ihn  politische  „Nacht“  umgibt  und  die  Vordenker  einer
          Neuordnung sich einem gnadenlosen „Boreas“  (‘Vulkan’, V. 9) ausgesetzt sehen.
              Die  mythomessianische  Anreicherung  Achills  in  ‘Chiron’  erlaubt  rück­
          blickend   auch   eine   antithetische   Entgegensetzung   von   Hölderlins
          „Lieblingshelden“ mit der Odysseusfigur aus dem Hyperion, eine Entgegensetzung,


           225  Schillers  „Fremde“  impliziert  wohl  weniger eine  reale  Reise  ins  klassische  Griechenland,
              als die  bereichernde  Verfremdung der deutschen Kultur und  Bildung durch ein  antikisie­
              rendes  Nationaltheater und  das  humanistische  Gymnasium.  Hölderlin  denkt  dagegen  an
              eine visionäre Annäherung an das Fremde (vgl. die imaginäre Flugreise in ‘Patmos’).
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