Page 29 - Robert Charlier: Google statt Goethe?
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die mit einem bibliophil gestalteten Begleitbuch zugleich als ambitionierte
               Hybridpublikation erfolgreich ist, belegen praktisch aber das Gegenteil.
               Entsprechend sind auch im Bereich der historisch-kritischen Werkausgaben
               klassischer Literatur nicht die vom wissenschaftlichen Standpunkt jeweils
               aktuellen Editionen die begehrtesten Kandidaten für eine Retrodigitalisie-
               rung, wie sie im Falle Goethes etwa die Frankfurter oder Münchner Ausgabe
               darstellen. Vielmehr geraten ältere und bewährte Ausgaben in den Fokus
               des Interesses, die vom Forschungsstand zwar in der Regel überholt, aber
               eben rechtefrei sind. Für Goethe handelt es sich dabei z. B. um die Große
               Weimarer bzw. Sophienausgabe der Werke, Schriften und Briefe (143 Bände;
               Weimar 1887-1919), die vom Verlag Chadwyck-Healey Mitte der 1990er
               Jahre im Sinne eines Nachdruckes digitalisiert wurde (Cambridge 1995).
               Bei der  technischen Kanonisierung spielen Digitalisierungszentren und die
               dahinter stehenden Institutionen wie Bibliotheken und Fördereinrichtungen
               sowie – in begrenzterem Umfang – auch die Verlage eine noch weitgehend
               unerforschte Rolle.

                  Jüngere Analysen der Möglichkeiten und Grenzen digitaler Kanonbildung
               diagnostizierten bereits die Inkonsistenz des Werkbegriffs durch die schier
               endlose Menge möglicher »medialer Performationen« literarischer Texte und
               die Einflussnahme auf Form und Inhalt durch allgegenwärtige »Interaktivi-
               tät« (Gendolla, in: Arnold 2002, S. 91 bzw. 96f.). Diesen Stimmen zufolge
               steht die Vorstellung vom Originalwerk im digitalen Zeitalter grundsätzlich
               in Frage. Der Autor drohe in den virtuellen Weiten zu verschwinden. Diese
               Anfechtung der literarischen Autonomieästhetik entspringt demnach vor allem
               den immensen Datenmengen der digitalen Verfügbarmachung von Texten.
               Die Infragestellung tradierter Qualitäten resultiert demzufolge primär aus den
               Möglichkeiten neuer technischer Quantitäten. Masse bestimme die Klasse.
               Dies gelte aber, so Gendolla, nicht nur auf der Gegenstands-, sondern auch
               auf der Subjektseite, und das heißt mit Blick auf ein Beispiel wie die Online-
               Enzyklopädie Wikipedia: die Klassifizierung von Wissen. Allerdings fungieren

               semantische »Filterungsprozesse« (Gendolla, in: Arnold 2002, S. 93) auch
               weiterhin als Korrektiv des kulturellen Gedächtnisses. Neue Technologien
               vermögen traditionelle Kanonbildungen demzufolge nur dann zu transformie-
               ren, wenn technische Prozesse eine derart kritische Masse umwälzen, dass
               auch qualitative Umbrüche unvermeidlich werden.





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