Page 25 - Robert Charlier: Google statt Goethe?
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in Religion, Literatur oder Wissenschaft, aber auch in der Musik-, Film- und
Medienwelt. Aufgrund der überwiegend freien Zugänglichkeit kanonischer
Texte und Korpora durch Bücher und Bibliotheken sowie der weltweiten
Verbreitung klassischer Inhalte durch das Internet ist diese Welt paralleler
Kanonisierungen durchlässig geworden. Es besteht daher stets die Möglich-
keit, einen formellen Kanon kumulativ zu ergänzen, zu reduzieren oder zu
ersetzen. Dies gilt zumindest theoretisch und vornehmlich für den westlichen
bzw. westlich geprägten Teil der sogenannten Weltgesellschaft. Im Unter-
schied zum singularischen Charakter des kanonischen Konzepts seit der
europäischen Antike und Aufklärung wird dem dialogisch und zugleich pole-
mischen Potential von Kanonkontroversen daher am ehesten eine pluralische
Begriffsansetzung gerecht. Innerhalb einer Gemeinschaft konsensuell, also
gewissermaßen einstimmig fixierte Überlieferungen werden in der (föderalen,
multikulturellen und globalisierten) Realität der modernen Weltgesellschaft
mehrstimmig wiedergegeben, und zwar – unter Rückgriff auf die musikalische
Bedeutung unter Punkt (2) im Vorigen – als eine Art Kanon der Kanon(e)s.
4. Goethezeit und Globalisierung
Wort und Konzept der →Globalisierung sind mit vielen modischen und
trivialen Behauptungen, politischen Absichten und Missverständnissen ver-
bunden. In den Sozial- und Geisteswissenschaften haben dabei vor allem
Theoriebildungen über die Jahrtausendwende hinaus ein besonderes Echo
hervorgerufen, die mit ihren Erklärungsmodellen für soziale, ökonomische
und kulturelle Prozesse die systemische Vorstellung der ›Einen Welt‹ bevor-
zugen, manifest in Konzepten wie etwa Weltpolitik, Weltwirtschaft oder
Weltgesellschaft.
In der jüngeren Forschung ist der ›Dichter und Denker‹ der Deutschen,
Johann Wolfgang von Goethe (1749-1832), häufiger als Prophet und Skepti-
ker der Globalisierung bemüht worden. Dies geschah insbesondere mit Blick
auf den zivilisatorischen Begriff von Zeit und Geschwindigkeit. Tatsächlich
verwendete Goethe Begriffe wie Weltbewohner, Weltereignis, Weltgeschichte
oder Weltliteratur (nach Wieland) in einem Sinne, die moderne Bedeutungs-
valenzen anklingen lassen oder zumindest ansatzweise nahelegen. Goethes
Sicht der technischen, ökonomischen und soziokulturellen Modernisierungs-
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