Page 27 - Robert Charlier: Google statt Goethe?
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von Presseprodukten. Die Folgerung: Die Rasanz der modernen Textmedien
schwäche das kulturelle Gedächtnis in der Substanz, indem sie es in der Masse
überstrapaziere. Gendolla spricht in diesem Zusammenhang treffend von der
These einer »Informationsflut« (in: Arnold 2002, S. 90), die die Modernisierung
mit sich gebracht habe. Dieser Annahme zufolge habe die absolute Menge
von Wissen und Information mit den medientechnischen Innovationen in der
Geschichte von 1800 bis 2000 überproportional zugenommen.
Für die Vorstellung der medialen Überflutung des modernen Subjekts lassen
sich im Übrigen prominente Kronzeugen zitieren, darunter auch der Goethe-
Verehrer Thomas Mann (a. a. O., S. 90f.). Vor diesem Hintergrund kommt die
epistemische Kanonisierung von Wissenstatbeständen ins Spiel. Diese Form
der Kanonbildung besitzt eine fundamentale Selektions- und Orientierungs-
funktion für jede Kultur. Wissensgeschichtlich ist es allerdings keineswegs
eindeutig erwiesen, dass die jeweils aktualisierbare Informationsmenge einer
historisch fortgeschritteneren Kulturstufe zwangsläufig gewachsen, also
definitiv größer sein muss. Vielmehr erscheinen hier auch Verdrängungs- und
Umschichtungsmodelle plausibel, denkt man beispielsweise an den Umfang
eines Lexikoneintrags über eine Realie aus einem Wörterbuch im 18. Jahr-
hundert im Vergleich zu einem Artikel in einem modernen Online-Lexikon
(z. B. Zedler/Wikipedia). So scheiden überwundene Wissensbestände − etwa
im Bereich des okkulten Heilwissens oder ›falscher‹ Volksetymologien bei
Tier- und Pflanzennamen − aus dem Bestand eines modernen Nachschlage-
werkes aus. Dagegen halten zahlreiche neue naturwissenschaftliche Fakten
und Termini Einzug. Selbst wenn man hier eine rein mengenbezogene Auf-
rechnung eröffnet, scheint ihr Wert nur von begrenzter Aussagekraft.
5. »Google goes Goethe!«
Im Zeitalter der Globalisierung genießen viele aufklärerische Werte durch
das Ethos einer universellen Demokratisierung des Wissens eine kulturüber-
greifende, weltweite Verbreitung, die mit jeder technischen Innovation noch
zunimmt. So kann man die Popularisierung enzyklopädischer oder lexiko-
grafischer Infrastrukturen und die ethische Propagierung von Konzepten wie
Open Access, Open Source oder Wikipedia innerhalb der modernen Wis-
sensgesellschaft durchaus als Beleg für eine epistemische Erfolgsgeschichte
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