Page 24 - Robert Charlier: Google statt Goethe?
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(3.) In der christlichen Theologie meint der Begriff (a) eine Auswahl
der theologisch verbindlichen religiösen Offenbarungsschriften Gottes. Als
kanonisch wird (b) sodann das kodifizierte Recht der römisch-katholischen
Amtskirche bezeichnet. Ein ›Kanon‹ in diesem Sinne bedeutet soviel wie
›kirchenrechtliche Norm‹ (nur für diese Bedeutung lautet der Plural: Kanones).
Die Rückübertragung von Bedeutung (3a) − ›verbindliche Auswahl von
religiösen Schriften‹ − auf den literarischen Bereich wird dem Altertumskundler
und Bibliothekar David Ruhnken (1723-1798) zugeschrieben. Ruhnken war ein
Freund des bedeutenden niederländischen Gelehrten Frans Hemsterhuis und
wirkte die zweite Hälfte seines Lebens an der Universität Leiden. Im Erstdruck
seiner lateinisch verfassten Historia critica oratorum Graecorum von 1768
verwendete Ruhnken den Ausdruck »in canonem« zur Kennzeichnung der
Zugehörigkeit der zehn attischen Redner zu einer mustergültigen Auswahl,
die seiner Meinung nach auf eine Einteilung der alexandrinischen Gramma-
tiker zurückgehe (ebd. XCIV f.). Die moderne Verwendung des (deutschen)
Wortes ›Kanon‹ in der für den vorliegenden Zusammenhang maßgeblichen
Bedeutung − ›Kanon von literarischen Werken‹ − resultiert also auf einer
Rückübertragung aus dem Neulateinischen auf den antiken Gegenstand, hier
eine Liste der zehn besten attischen Oratoren (→Kanon, der).
In der Kanontheorie werden Wort und Konzept des Kanons als formelle
Festschreibung eines Korpus’ von Artefakten, Bildern oder Texten gerne
mit dem definiten Artikel im Singular gekennzeichnet. Man denke in diesem
Kontext exemplarisch an Marcel Reich-Ranickis 5-teilige bzw. 50-bändige
Auswahl Der Kanon (Frankfurt am Main 2002-2006). Die dudenkonforme
Mehrzahl für die usuelle Verwendung des Wortes lautet korrekt: die Kanons.
Literatur- und Kulturwissenschaft favorisieren allerdings gerne die klassi-
sche Form und sprechen in der Mehrzahl von Kanones. Strenggenommen
ist diese Pluralform aber gemäß dem Bedeutungspunkt (3b) im Vorigen der
fachsprachlichen Verwendung unter Historikern und Theologen vorbehalten.
3. ›Kanon‹ der Kanon(e)s?
Die Weltgesellschaft des 21. Jahrhunderts ist eine Epoche des Nebenein-
anders einer unüberschaubaren Zahl von kanonisierenden Festschreibungen
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