Page 28 - Robert Charlier: Google statt Goethe?
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der europäischen Aufklärung verstehen. Andererseits inflationieren virtuelle
               Informationstechnologien die Allverfügbarkeit von Bildungswissen auf
               Kosten von Kriterien der Auswahl und Überprüfbarkeit. Die Technologie der
               Klassifizierung tritt an die Stelle der kulturellen Überlieferung von Klassizi-
               tät oder anders gesprochen: Auch kulturelle Inhalte werden von mächtigen
               Suchmaschinen gleichsam algorithmisch ›kanonisiert‹. Man könnte dieses
               Phänomen auch formelhaft überspitzen: Google statt Goethe.


                  Aber das Fragezeichen hinter dieser bewusst vereinfachenden Formel im
               Titel des vorliegenden Buches rechtfertigt sich aus mehr als einem Grund.
               Zwar räumen jüngere Untersuchungen zur Kanonbildung im Netz ein, dass die
               neuen Bild- und Textmedien durchaus neue Kanonformen hervorbringen. Es
               bleibt aber auch vieles beim Alten, oder, um eine historische Audrucksweise
               zu vergegenwärtigen: bei den Alten – das heißt: den tradierten Autoritäten.
               So kommt es im Rahmen der von vielen renommierten Förderinstitutionen
               unterstützen Digitalisierung in den Geisteswissenschaften zu ambivalenten
               Nebeneffekten. Zumeist besteht nämlich die aufwändige Retrodigitalisierung
               bestimmter Wörterbücher oder Editionen vor allem in der Rekanonisierung
               älterer Text- oder Datenkorpora. Da diese Digitalisate als weltweit frei
               zugängliche und auch weitgehend kostenlose Webressource hohe Nutzerzah-
               len erzielen, erfahren solche Korpora eine neue, ansonsten kaum denkbare
               Kanonisierung durch den modernen Internetnutzer.

                  Ein Paradebeispiel für diesen Effekt der digitalen Rekanonisierung bildet
               das Projekt Der digitale Grimm (2004). Es handelt sich dabei um die philolo-
               gisch und technisch anspruchsvolle elektronische Erschließung des Deutschen
               Wörterbuchs von Jacob und Wilhelm Grimm (16 Bände, Leipzig 1854-1960/71)
               durch das Kompetenzzentrum der Universität Trier in Kooperation mit der
               Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften und dem Verlag
               Zweitausendeins. Während diese Digitalisierung des wohl umfänglichsten
               gedruckten historischen Wörterbuches deutscher Sprache einerseits Maß-
               stäbe gesetzt hat, was Auszeichnungstiefe, Volltextretrieval und die mediale
               Mehrfachpublikation im Internet sowie auf CD-ROM/DVD angeht, wurde
               inhaltlich zugleich ein Wörterbuch rekanonisiert, das eigentlich vom Stand
               der lexikografischen Forschung überholt erscheint, also wissenschaftlich
               dekanonisiert sein müsste. Die überdurchschnittlich hohen Zugriffszahlen
               auf die Internetversion sowie die vielen Auflagen der Offline-Komponente,




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