Page 26 - Robert Charlier: Google statt Goethe?
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schübe seiner Zeit sollen dieser Auffassung nach belegen, dass der Beginn
               des 19. Jahrhunderts bereits eine Epoche der Proto-Globalisierung darstellte.
               Für die Vorläuferfunktion der Zeit um 1800 mit Blick auf die moderne Infor-
               mations- und Wissensgesellschaft werden vor allem die Innovationen im
               Bildungswesen angeführt, wie sie sich in jener Epoche in Gestalt von Alpha-
               betisierungskampagnen, einem florierenden Buchhandel und der Entstehung
               von Lesegesellschaften manifestierten. Auch wird mit einigem Recht betont,
               dass die Entstehung eines literarischen Zeitschriften- und journalistischen
               Pressewesens im modernen Sinne eine Errungenschaft der Goethezeit sei.
               Briefäußerungen Goethes gegenüber seinem Berliner Freund Carl Friedrich
               Zelter sprechen allerdings von einer gewissen Skepsis gegenüber der Moderne.
               Für Goethe und seine Zeitgenossen zeichnete sich die schöne neue Technik-
               welt in den rasanten Entwicklungsschüben des allgemeinen Verkehrs- und
               Kommunikationswesens ab. Goethe verwendete den Begriff der »Commu-
               nication« dabei bereits in einem überaus modernen Sinne:

                  »alles [...] ist jetzt ultra, alles transcendirt unaufhaltsam, im Denken wie im Thun
                  [...]. Reichthum und Schnelligkeit ist was die Welt bewundert und wornach jeder
                  strebt; Eisenbahnen, Schnellposten, Dampfschiffe und alle mögliche Facilitäten
                  der Communication sind es worauf die gebildete Welt ausgeht, sich zu überbie-
                  ten, zu überbilden und dadurch in der Mittelmäßigkeit zu verharren.« (Goethe
                  an Zelter, datiert auf den 6. Juni 1825; Weimarer Ausg., IV. Abt., Bd. 39, 1879,
                  S. 215f. − Das pluralische Wort »Eisenbahnen« steht hier noch nicht als Metonymie
                  für das klassische öffentliche Verkehrsmittel der Moderne; vielmehr bezeichnet
                  es noch ganz konkret die zu jener Zeit als Weltneuheit konstruierten »eisernen
                  Kunststraßen« (so der Ingenieur und Erfinder Joseph von Baader , 1763-1835),
                  also jene ›Schienenwege‹, die dem wichtigsten Transportsystem des industriellen
                  Zeitalters bis heute buchstäblich zugrunde liegen; Anm. R. C.


                  Aus diesen Bedenken gegenüber einer Welt, die sich in einem überstürzten
               Wandel befindet, ist zugleich eine prophetische Vorwegnahme konservativer
               Medienkritik herausgelesen worden, die in etwa nach folgendem Schema
               argumentiert (referiert nach Peter Gendolla, in: Arnold 2002, S. 90-97): Die
               allgemeine informationelle Beschleunigung durch den medialen Wandel
               relativiert den Bestand einzelner kultureller Wissenswerte und gefährdet das
               Wissen um Werte überhaupt. Gemeint sind in der Regel die Rationalisierung
               des Buchdrucks, die wachsende Anzahl von Literatur- und Wochenzeitschriften
               sowie die überregionale und in Ansätzen auch bereits massenhafte Verbreitung



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