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Autorenkanon
Der Begriff bezeichnet erstens eine auswahl von autorEn odEr dIchtErn,
die von einer bestimmten gruPPE oder gEsEllschaft für vorbildlich und daher
für überliefernswert gehalten werden (→Kanon, der). Autorenkanons folgen
dabei in der Regel dem Prinzip doppelter Pluralität. Das heißt, mehrere Autoren,
Dichter oder Denker werden für eine kollektive Instanz, eine Gesellschaft oder
Kultur, als mustergültig festgeschrieben. Einige wenige Individuen werden
kraft ihrer überzeitlichen kulturellen Bedeutung von vielen einhellig wertge-
schätzt. Systematisch steht die Bezeichnung ›Autorenkanon‹ auf einer Ebene
mit Konzepten wie ›Gattungskanon‹ (Auswahl von Gedichten, Romanen oder
Dramen verschiedener Autoren) sowie ›Werkekanon‹ (Auswahl einzelner
Werke der Weltliteratur, z. B. Goethes Werther; Wilhelm Meister oder Faust;
Schillers Wallenstein).
Unter einem ›Autorenkanon‹ versteht man zweitens einen Kanon dEr
wErKE, die einem Autor, Verfasser oder geistigen Urheber auf wissenschaft-
lich gesicherter Basis zugeschrieben werden können. Kanoni sierung bedeutet
in diesem Zusammenhang: Eine schöpferische Leistung wird einer Person
individuell zugeordnet. Die Frage nach den authentischen Werken eines
literarischen Autors ist dabei untrennbar mit dem philologischen Problem
ver bunden, ob einzelne Texte oder Werke sowie Werkkomplexe tatsächlich
nur auf einen oder aber zwei oder sogar mehrere Autoren zurückgehen.
Speziell bei Werken der modernen Literatur hat diese Problematik auch eine
juristische Seite, insofern das Urheberrecht noch greift. Man denke z. B. an
→Plagiarismus als ›Fälschung‹ einer Verfasserschaft oder an literarische
Zusammenarbeit, bei der die individuelle Autorschaft erweitert oder sogar
ab sichtlich aufgegeben werden kann. Ein klassisches Beispiel dafür bildet
die →literarische Kooperation zwischen Goethe und Schiller.
Der Begriff bedeutet drittens auch Kanon dEr lItErarIschEn autorEn und/
odEr wErKE, die einem bestimmten Autor (Schriftsteller, Pu blizist, Wissen-
schaftler o. ä.) als künstlerisch produktive mEIstErwErKE besonders am Herzen
liegen oder seiner Meinung nach von allgemeiner oder besonderer Bedeutung
sind. Beispiel: Books and You. Eine kleine persönliche Geschichte der Welt-
literatur von William Somerset Maugham (1874-1965); s. die Bibliografie
unter Punkt A.III.1.2. Letztlich basiert eine solchermaßen ›präskriptive‹ oder
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