Page 39 - Robert Charlier: Google statt Goethe?
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Dieses Schrifttum war bis in die frühe Neuzeit noch weitgehend in lateini-
               scher Sprache verfasst und besaß vor der Geburt der ›schönen‹ Literatur im
               modernen Sinne kanoni sche Autorität. In der deutschen Literaturwissenschaft
               ist das Wort ›Belletristik‹ terminologisch geworden. Das inhaltliche Konzept
               der Belles lettres im Kontext der französischen Frühaufklärung ist allerdings
               keineswegs deckungsgleich mit dem Bedeutungshof des modernen deutschen
               Wortes. Belletristik meint heute im Deutschen immer auch Unterhaltungs- oder
               Trivialliteratur, zuweilen auch in einem leicht pejorativen Sinn. Der deutsch-
               sprachige Literaturbetrieb kultiviert aber eine Unterscheidung zwischen Unter-
               haltungs- und ernster Literatur (»U und E«), die beispielsweise im engli schen
               Sprachraum unbekannt ist. Aus dem Blickwinkel des Literaturhistorikers bleibt
               festzuhalten: Die Emanzipation der ›Belletristik‹ um 1700 hat entschei dend
               dazu beigetragen, dass es in Europa seit der Frühaufklärung überhaupt zum
               Nachdenken über einen verbindlichen Literaturkanon im modernen Sinne kam.



                                         Bildungskanon


                  Sprachgeschichtlich wurzelt der Begriff ›Bildung‹ in der mittelalterlichen
               My stik. Meister Eckhart (um 1260 bis vor 1380), einer der bedeutendsten
               Mystiker des Mittelalters, sprach von ›bildunge‹ und ver wendete Verben wie
               ›überbilden‹ oder ›in sich bilden‹. Diese Wörter sind wohl als sprachliche
               Neuschöpfungen (Neologismen) jener Zeit aufzufassen. Die Wortgeschichte
               dokumentiert eine interessante Übertragung der naturhaft-konkreten Vor-
               stellung im Sinne von prozessualer Entstehung auf den kultu rellen Bereich
               (»etwas bildet sich« im Sinne von: etwas entsteht). ›Bildung‹ bedeutet dann
               kognitive Aneignung, geistige Anverwandlung (»ich bilde mich« im Sinne
               von: ich eigne mir etwas geistig oder mental an). Das Zweitglied →Kanon
               bedeutet hier: Sammlung oder Liste von (empfohlenen, vorgeschrie benen)
               Werken der Literatur. Verbindliche Verzeichnisse von literarischen Werken,
               speziell der klassischen Literatur, sind unverzichtbare Elemente eines jeden
               Schul- und Bildungswesens westlichen Zuschnitts. In Form von Lehrplänen
               (Curricula), Leselisten und Lektüre-Empfehlungen an Schulen und Universi-
               täten wird zumeist das Prinzip eines singularischen ›Kanons‹ prakti ziert: der
               Kanon, der gültig oder verbindlich ist. Er listet für die Schule oder Uni versität
               diejenigen Bücher oder Werke auf, die gelesen, gekannt oder ›gelernt‹ werden
               müssen (→Kernkanon). Daneben existiert auch das plurale Nebenein ander



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