Page 36 - Robert Charlier: Google statt Goethe?
P. 36
empfehlende Zusammenstellung von ›lesenswerten‹ Büchern auf bestimmten,
mehr oder weniger subjektiven Beurteilungskriterien wie soziale Herkunft,
persönliche Vorlieben oder gelten der Zeitgeschmack (→›Lesenswerte‹).
Eine weitere Bedeutung des Begriffes ist Liste, Sammlung oder Korpus
derjenigen wErKE oder EInflussquEllEn, die einen Schriftsteller oder Denker
innerhalb seines Bildungsganges maßgeblich geprägt haben. Ein solcher
Bildungs- oder Einflusskanon eines Autors kann in der Regel lediglich im
Nachhinein rekonstruiert werden. Genaugenommen handelt es sich dabei
um eine Sonder- oder Unterkategorie von Bedeutung (3). So wirkte das
theologische und pietistische Schrifttum während seiner Ausbildung am
Evangelischen Tübinger Stift auf Friedrich Hölderlin (1770-1843) dermaßen
nachhaltig, dass der Dichter für sein literarisches Werk maßgeblich davon
zehrte. Ein weiteres Beispiel bildet die Wirkung der umfangreichen Biblio-
thek von Goethes Vater Johann Caspar Goethe auf den jungen, noch im
Werden begriffenen Dichter (→Kanongegenstand). Diese dritte Bedeutung
des Begriffs ist für die historische Kanonforschung zentral, die sich mit der
Rezeption von bestimmten Kanons durch einzelne Autoren, Einrichtungen
oder Epochen be fasst. Die historische Kanonforschung überschneidet sich
oft mit der Erfor schung individueller Bildungsgänge, wie sie z. B. die akade-
mischen und schriftstellerischen Werdegänge eines Goethe, Schiller, Hegel,
Hölderlin oder Schelling darstellen.
In der Bedeutung ›Kanon der mit Sicherheit von einem Autor stammen-
den Werke‹ − entsprechend Bedeutungspunkt (2) im Vorigen − besitzt der
Begriff Autorenkanon eine weitere Dimension. Ein Beispiel hierfür liefert die
ältere Homerfrage in der klassischen Philologie: Gab es den Dichter Homer
wirklich? Oder verbirgt sich hinter dem Namen vielmehr eine Gruppe von
Urhebern heterogener Überliefe rungen, die erst im Nachhinein zu einem
Kunstwerk aus der Hand eines einzigen großen Genius’ verdichtet wurden?
Ein weiteres Beispiel dokumen tiert der berüchtigte Kampf innerhalb der
Shakespeare-Forschung. Die sogenannten »Stratfordianer« halten an der
personalen Identität des Theatermannes aus schlichten Verhältnissen fest,
der als William Shakespeare (1564-1616) die größte Zeit seines Lebens in
Stratford-upon-Avon wirkte. Da gegen führen die »Oxfordianer« ins Feld,
dass diese reale Person bereits aufgrund ihres Bildungshintergrundes niemals
in der Lage gewesen wäre, einige der wichtigsten Werke der Weltliteratur
32