Page 37 - Robert Charlier: Google statt Goethe?
P. 37

zu schaffen. Sie halten Edward Vere, den 17. Earl von Oxford (1550-1604)
               für den wahren Shakespeare. So bezeichnet sich die »Shakespeare Oxford
               Society« in ihrer Selbstdarstellung kämpferisch als »Dedicated to Researching
               and Honoring the True Bard«. Kanonkontroversen dieser Art haben Genera-
               tionen beschäftigt und liefern stets frische und wohlfeile Nahrung für neue
               Spekulationen. So wollen die Shakespeare-Forscher Alec Cobbe und Stanley
               Wells in einem 2006 neu be werteten historischen Porträtgemälde aus eigenem
               Familienbesitz das einzig authentische Bildnis des Weltdichters erkannt haben.
               Bisherigen Zuschreibun gen zufolge zeigt es Henry Wriothesley, den 3. Earl of
               Southampton (1573-1624). Dabei handelt es sich eigentlich um einen Freund
               und Förderer Shakespeares, der auch als Adressat von Widmungen epischer
               Werke des Dichters gilt.


                  Die personelle Identität von Johann Wolfang Goethe als bedeutendster
               Ver treter der deutschen Dichter und Denker kann dagegen als gesichert gelten.
               Allerdings haben sich die Gelehrten immer wieder um die Zuschreibung ein-
               zelner Werke und Texte gestritten. So schied die heute so gut wie vergessene
               Joseph-Dichtung schon bald nach ihrer Auffindung wieder aus dem Kanon
               der Goetheschen Werke aus. Die 1920 in Altona aufgefundene Handschrift
               einer epischen Dichtung war für kurze Zeit dem jungen Goethe zugeschrieben
               wor den, was sich als philologischer Irrtum erweisen sollte. Stilanalysen der
               Zeit schrift Frankfurter Gelehrte Anzeigen, ein periodisch erscheinendes Rezen-
               sionsorgan, an dem auch der junge Goethe sich rege als Kritiker betei ligte,
               ergaben zu Anfang der 1950er Jahre, dass einige Texte nicht länger Goethe
               zugeordnet werden konnten. So wurde der bis dato gültige Goethekanon um
               einige Rezensionstexte ärmer (→Kanonisierung, automatische).



                                            Axiologie


                  Der Terminus Axiologie ist ein philosophischer Begriff und bezeichnet
               die formale Theorie der menschlichen Werte (Wertlehre), und zwar speziell
               im Unterschied zur Theorie vom Handeln (Handlungstheorie). Abgeleitet
               ist das Wort von altgriech. axis im Sinne von ›Wert‹, engl. value, und lógos,
               ›Lehre‹. Das Adjektiv axiologisch bedeutet also ›werttheoretisch, dem Werte
               nach‹. Ein Anwendungsbereich dieser Philosophie ist die Kanontheorie, als
               zentraler Be reich der Theorie ästhetisch-literarischer Wertung (→Wertung,



                                                                                 33
   32   33   34   35   36   37   38   39   40   41   42