Page 11 - Robert Charlier: Heros und Messias (1999)
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Einleitung: Hölderlins messianische Mythogenese
Die messianische Idee ist das Zentrum in Dichtung und Denken von Johann
Christian Friedrich Hölderlin (1770-1843). Die Frage durchwirkt sein Werk: Wie
ist eine universelle Erlösung durch das immanente Eingreifen einer
transzendenten Instanz möglich und welchen geistigen oder politischen Anteil
können die großen einzelnen als Seher, Künder oder Führer daran nehmen?
Angefangen vom revolutionär millenaristischen Überschwang der Tübinger
Hymnen bis zum restaurativen Fürstenlob1 im Umfeld der „Vaterländischen
Gesänge“ und späten Fragmente lotet Hölderlin die Möglichkeit diesseitiger
Erlösung im Geiste einer Allversöhnung aus, die jenseitig garantiert ist. Noch vor
dem Jüngsten Tag gibt es demnach ein irdisches Reich, das religiös, ästhetisch und
politisch Gestalt annimmt. Hölderlin ist poetischer Chiliast. Dies im Gegensatz
zu Hegel, der mit seinem dialektischen Entgegensetzungsmodell jegliche
Transzendenz aufhebt. Als rein immanenter Versöhnungsprozeß zwischen
Vernunft und Offenbarung macht Hegels „Weltgeist“ schließlich die
transzendente Erwartung zur niederen Vorstufe: zur jüdischen Ordnung des
„Gesetzes“, die von der christlichen Ara des „Geistes“ überwunden wird.2 Die
Geschichtsphilosophie macht der Lehre vom eschaton ein Ende.
Hölderlins Messianismus dagegen will weit über die Säkularisierungen mes-
sianischer Ideen, wie z. B. Kants „Garantie des ewigen Friedens“, hinaus.3 Auch
überschreitet sein Wille zur Synthese die anderen spekulativen Systeme, die man
als Säkularisate messianischer Ideen auffassen kann (Rousseaus Bearbeitung der
Schrift des Abbe de St. Pierre4 Extrait du Projet de Paix Perpetuelle, 1761; Lessings
Erziehung des Menschengeschlechts, 1780; Hemsterhuis’ Alexis ou De Page d'or, 1787;
Schillers „Über die ästhetische Erziehung des Menschen, in einer Reihe von
1 Vgl. neben dem Oden-Entwurf ‘Buonaparte’ vor allem die Widmung zu ‘Patmos’, die
Fragmente ‘Dem Allbekannten’ und ‘Dem Fürsten’. Auch die Oden ‘Der Prinzessin
Auguste von Homburg’ und ‘An eine Fürstin von Dessau’ sind affirmative Anrufungen
von (weiblichen) Königs- und Fürstengestalten, die Hölderlin einmal die „Engel unseres
Vaterlandes“ nennt, denen er „singen“ wolle (vgl. die Widmung zu den Sophokles-
Übersetzungen, KH AII: 785, ZZ. 8-10).
2 Vgl. „Der Geist des Christentums und sein Schicksal“, 1798-1800. Hegel hat bis 1800 Ver
nunft und Offenbarung noch als Gegensatz angesehen (vgl. Folkers 1994: 85, Anmerkung
Nr. 53). Als Beleg dafür gilt die „aporetische Stellung von Religion und Philosophie im [...]
‘Systemfragment von 1800’“ (Folkers ebd.). Erst mit seiner Schrift „Differenz des
Fichte’schen und Schelling’schen Systems der Philosophie“ von 1801 überwindet Hegel
diesen Standpunkt durch seine immanent gedachte dialektische Geschichtsphilosophie.
3 Immanuel Kant: Zum ewigen Frieden (1795): „Erster Zusatz: Von der Garantie des ewigen
Friedens“
4 Vgl. Charles Irenee, Castel Abbe de St. Pierre: Proje[c]t de la paix perpetuelle entre les
potentates de l’Europe, 3 Bde., Utrecht 1713