Page 13 - Robert Charlier: Heros und Messias (1999)
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H ölderlins messianische Mythogenese          11

                      Nah10  ist
                      Und schwer zu fassen der Gott.
                      Wo aber Gefahr ist, wächst
                      Das Rettende  auch. (VV.  1-4)
        Die  organische  Metaphorik vom  „Wachstum“  verschlüsselt  den  heroisch-mythi­
        schen  Gehalt der Messiasfigur. Hölderlin spielt nämlich in den Erweiterungen der
        Hymne auf den Mythos von Kadmos an, der einen Drachen bezwang. Die Zähne
        des Ungeheuers (seine Beute)  säte er aus, worauf ihm eine Schar Kämpfer aus dem
        Boden  erwuchs,  die  mit  ihm  Theben  befreite.  Die Ungreifbarkeit  des  göttlichen
        „Retters“  und „Befreiers“  (‘Chiron’,  VV. 29f.),  wird so  durch  die  heroische Kon­
        kretion des Mythos  und die Organik des Pflanzenvergleichs aufgehoben.  Prompt
        wie  die  „Drachenzähne“  des  Kadmos  (‘Patmos’  II,  V. 98)  „wächst“  der  „Retter“
        aus der Bodensenke der Geschichte, die noch voller „Gefahr“  für die Erlösung ist
        (zur  genauen  Bedeutung  der  „Drachenzähne“  vgl.  IV. Kapitel).  So  weit  geht  die
        Verheißung  der  Hymne  in  den  „Bruchstücken  der  späteren  Fassung“  (Jochen
        Schmidt)  (=  ‘Patmos’ II; KHA  1:357ff.)  und  in  der  Überarbeitung  dieser
        „Bruchstücke“  (=  ‘Patmos’ 11*; KHA I:  lOlOff.):11

                      [...] und die Wetter Gottes rollten
                      Ferndonnernd, Männer schaffend, zornige  [Lücke] wie wenn
                                     Drachenzähne, prächtigen Schicksals [...]
                      (‘Patmos’ IR, VV. 96f. -  Hervorhebung Jochen Schmidt)
        Die  schicksalhafte  Zwangsläufigkeit  der  „zornigen“  Heroen  kontrastiert  mit  der
        Ungreifbarkeit  des  Gottes  in  den  ersten  Verszeilen:  Hölderlins  Erlöserbild  ist

        „schwer  zu  fassen“  und  zum  Greifen  nah;  abstrakt  und ganz  konkret  dem  Irdi­
        schen  entwachsend.  Diese  Dialektik  von  transzendenten  und  immanenten
        Merkmalen  charakterisiert  den  judäochristlichen  Messianismus  seit  Daniels  Pro­
        phezeiung vom  „Menschensohn“  und der vier  Reiche.  Von  den  apokalyptischen
        Bewegungen zur Zeit Jesu bis zur „letzten“ Apokalypse des Johannes (vgl. Taubes
         1991: 74f.)  durchdrangen sich kosmisch-jenseitige und national-diesseitig gedachte
        Eschatologie,  messianische  „Nähe“  und „Ferne“.12 Die vielen chiliastischen Über­
        lieferungen  und  Moden  in  Mittelalter  und  früher  Neuzeit  haben  diesen
        imminenten  Messianismus  in  je  unterschiedlicher  Gewichtung  von  Immanenz




          10  Hervorhebungen  ohne  Hinweis  immer  vom  Verfasser  der  Arbeit  (R.  C.).  Römische
            Ziffern  hinter  Gedichttiteln  geben  die  Fassung  an.  Nummern  der  Fragmente  folgen  der
            KHA, der Textgrundlage aller folgenden Zitate, falls nicht anders ausgewiesen. Bibelstellen
            nach den Abkürzungen der revidierten Lutherübersetzung (1985).
          11  Bei  Friedrich  Beißner  entspricht  diese  Textstufe  ‘Patmos’  III  („Ansätze  zur  letzten
            Fassung“, vgl. StA II:  184-187).
          12  Dieser  transzendent-diesseitige  Mischcharakter  des  judäochristlichen  Messianismus  er­
            scheint zuweilen „unentwirrbar“  (Taubes  1947: 49). Aber die Stränge dieses unauflösbaren
            Knotens sollen im folgenden zurückverfolgt werden.
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