Page 12 - Robert Charlier: Heros und Messias (1999)
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10                           Einleitung


           Briefen“,  1795).5 Denn  in je  eigener Nuancierung der verschiedenen Werkphasen
           bewahrt  sich  Hölderlin  bis  zuletzt  den  Glauben  an  den  eschatologischen  Augen­
           blick,  die  blitzhafte  Erlösung,  den  apokalyptischen  „Zeitbruch“,6  da  (der)  Gott
           kraft  eines  messianischen  Mittlers  im  Zeichen  von  „Liebe“,  „Frieden“  und
           „Gemeingeist“  die  Menschen  versöhnen  und  die  politischen  Zustände  harmoni­

           sieren  wird  und  der  messianisch-himmlische  aion den  geschichtlich-irdischen

           chronus ablöst.7  Allerdings  poetisiert  Hölderlin  bis  zuletzt  die Mischung  aus  im­
           manenten  und  transzendenten  messianischen  Ideen.  Apokalyptische  Metaphorik
           und transitorische Naturmythik halten sich die Waage, der „Umbruch“ ist beides:
           „Untergang“  und  „Übergang“.8  Heilsgeschichtlich-apokalyptische  Transzendenz
           und naturgeschichtliche Immanenz verschmilzt Hölderlin zur Imminenz, d. h. zur
           Vorstellung  einer  unmittelbaren  „Nähe“,  zum  „Bald“  des  Gottesreichs.9  Nur  so
           sind die Eingangsverse der Hymne ‘Patmos’  zu verstehen.  In vier Verszeilen ver­
           dichtet Hölderlin sein messianisches Denken: die „Unfaßbarkeit“ des kommenden
           Erlösers, aber auch die Zwangsläufigkeit seines Kommens sind hier gestaltet:




            5   Vgl.  Rosteutscher  1966:  17-34  („Philosophische  Vorläufer“ von Hölderlins „messianischen
               Ideen“)
            6   Vgl. Goodman-Thau  1995 („Zeitbruch . Zur messianischen Grunderfahrung in der jüdischen
               T radition“)
            7   Der pietistische Gebrauch des Wortes  „chronus“  für die geschichtlich lineare Zeit im Ge­
               gensatz  zum  messianischen  „aion“  (Schäfer  1991:  57)  zeugt  vom  chiliastischen  Zeitgeist,
               der Hölderlin nachweislich beeinflußt hat. Vgl. dazu Johann Albrecht Bengels Kommentar
               zu  Offb  10,  6  („Es  soll  hinfort  keine  Zeit  mehr  sein“).  Er  spricht  dort  vom  „offenen
               Chronus“ (= Geschichte) und vom „ganzen Chronus“  (=  messianischer Aion; Bengel  1975
               [1788]: 50).
            8   „Dieser Untergang oder Übergang des  Vaterlandes...“  (KHA II: 446,  Z.  26:  „Das  unterge­
               hende Vaterland...“. Dieser Aufsatz hat in der FHA den Titel „Das Werden im Vergehen“).
               Zur  philosophischen  Deutung  von  Hölderlins  theoretischen  Texten,  insbesondere  des
               Fragments  „Über  Religion“  [=  „Fragment  philosophischer  Briefe“  nach  FHA],  vgl.
               Hühn 1997:  16-22 bzw.  118-164.
            9   Die  englische  Sekundärliteratur kennt  die  Semantik  von  „Imminenz“  (von lat.  immineo,
               imminere,  „hervor“-  oder  „hereinragen“,  auch  „über jmds.  Haupte  schweben  =  nahe  be­
               vorstehen,  bald  eintreten“,  Georges  *1992:  II,  70f.).  Ganz  unwillkürlich  wurde  diese
               Semantik  für  die  Analyse  von  Hölderlins  „Chiliasmus“  fruchtbar:  „What  is  announced
               here  is  the  imminence  of  that  ‘Reich  Gottes’  which  served  as  the  ‘Losungswort’  for
               Hölderlin,  Hegel  and  Schelling  after  they  left  the  Stift  and  went  their  separate  ways.“
               (Gaskill  1976:  124). Und was für die „Bälde“, die „Nähe in der Zeit“ gilt, trifft auch auf die
               „Nähe  im  Raum“  zu,  wenn  Gaskill  ein  Kapitel  seines  Aufsatzes  über  ‘Chiliasm’  in
               Hölderlin’s  ‘Patmos’“  betitelt:  „The  nearness  of  God“  (Gaskill  1978:  40).  Auch  auf  die
               raumzeitliche  Doppelbedeutung  des  Wortes  „nah“  in  ‘Patmos’  geht  Gaskill  an  anderer
               Stelle ein: „This ‘nah’ can, and indeed should be taken temporally.  The danger consists in
               the nearness of the god.“  (Gaskill  1976:  130 - zu den Hervorhebungen vgl. die nächste An­
               merkung)
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