Page 15 - Robert Charlier: Heros und Messias (1999)
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H ölderlins messianische Mythogenese           13


        „(herrlicher)  Dulder Ulyß“  als  entfernter Verwandter von  Schillers  „rächendem“
        Orest  sind  nicht  mehr  die  Helden  eines  Hesiod,  Homer  und  Ovid  oder
        „herakleische“  Christusfiguren,  sondern  metamorphotisierte  „Hybride“  im  Sinne
        einer „neuen Mythologie“  (vgl. Frank  1982:  246-36;  1990/91:  1-31).  Sie sind zwar
        christlich  aufgeladen,  entfalten  die  Tiefenstruktur  ihrer  messianischen  Funktion
        aber  erst,  wenn  man  die  Begeisterung  im  Blick  behält,  die  die  Stiftler  für
        hebräische  und  orientalische Poesie,  die  Geschichtlichkeit  des  Christentums  und
        das jüdische Denken entwickelten.
            Mit  den  Herosmythen  versinnlicht  Hölderlin  allerdings  nur  eine  Facette
        eines  umfassenden  Konzepts  vom  messianischen  Mittler,  dem  großen  einzelnen
        oder „Genius“, nämlich den tätig-politischen Aspekt. Diese herakleische Seite wird
        komplementiert  durch  eine  geistige  oder  ikarische Facette,  wie  sie  sich  in  Höl­

        derlins  Flug-  und  Vogelmetaphorik  als  Bild  der  Geistsphäre,  aber  auch
        unmittelbar in  entsprechenden Mythen wie Hyperion,  Phaethon  oder  Ganymed
        zeigt.
            Die  mythologischen  Arbeitsbegriffe  des  Ikarischen  und  Herakleischen  be­
        schreiben  diesen  geistig-tätigen  Doppelcharakter  des  messianischen  Künders.14
        Nicht  nur,  daß  im  Dichterhelden  stets  ein  „Ikarus“  und ein  „Herakles“  zugleich
        stecken;  im  Rahmen  von  Figurenkonstellationen  oder  Masken  eines  Rollen­


        gedichts  treten  ikarische und  herakleische Figur  auch  einander  gegenüber  (die
        Zwillinge in ‘Die Dioskuren’; Achill und sein Lehrer in ‘Chiron’).

            Den  herakleisch heroischen Mythen  korrespondieren  die  ikarisch idealischen

        in harmonischer Entgegensetzung (vgl. KHA II: 524ff.). In einer markanten Stelle
        des Hyperion bedient sich Hölderlin sogar explizit des Ikarusmythos.15  Von einer

        konkreten  Gestaltungsabsicht  zeugt  aber  erst  der  stichwortartige  Plan  zu  einem

         14  Die  mythologischen  Arbeitsbegnffe  des  Ikarischen,  Herakleischen,  Proteischen und


            Dionysischen bezeichnen  die vier Hauptphasen  von  Hölderlins  Denken.  Sie  verschlüsseln
            jeweils  eine dominante  mythologische Figur:  Die  ikarische Stufe  beschreibt  die  optimisti­

            sche  Begeisterung  der  frühen  Hymnen;  das  Herakleische das  Problem  des  politischen
            Engagements im Hyperion und in den Heraklesgedichten; die proteische Phase den Versuch
            des Gestaltenwandels in der Zeit der „Nachtgesänge“; das Dionysische  die rauschhafte Pro­
            phetie der späten Gesänge.  Die vier Begriffe werden im folgenden noch systematisch und
            analytisch  definiert.  Um  sie  von  „mythologisierenden“  Adjektiven  wie  „prometheisch“,
            „titanisch“ oder „orphisch“ abzugrenzen, sind sie kursiviert.
         15  Hyperion  beschreibt  seinen  jugendlichen  Idealismus  mit  dem  „ikarischen“  Bild  vom
            „wächserne[n] Flügel“ und tut diese Phase als überwunden ab:  „Recht, Alabanda,  rief ich,
            so  wie  alle  große  Arbeit,  wo  des  Menschen Kraft und  Geist und keine  Krücke  und  kein


            wächserner Flügel hilft.  Da legen wir die Sklavenkleider ab, worauf das Schicksal  uns  sein

            Wappen  gedrückt  [...]  “  (KHA: II,  120,  ZZ. 25-28).  Wie  Hyperion  sich  Mangel  an  Kraft
            („Krücke“)  und ein Übermaß des geistigen Entwurfs  („Flügel“) vorwirft, so erkennt er im
            Tatmenschen Alabanda das andere Extrem: zuviel unreflektierte Kriegslust und Tatfreude.
            Folgerichtig  nennt  er  seinen  Freund  und  Gegenüber  denn  auch  einen  „Herkules“
            (KHA II: 39, ZZ.  15f.).
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