Page 14 - Robert Charlier: Heros und Messias (1999)
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12 Einleitung
oder Transzendenz überliefert. Im 18. Jahrhundert lebten diese messianischen
Ideen vielfach fort, politisch in anarchistischen Bewegungen (z. B. den
„Sabbatianern“ Jacob Franks [1726-1791]) oder philosophisch in den Säkula
risierungen der Geschichtsphilosophie.
Während Kant als „philosophischer Chiliast“ die Vorstellung vom „Ende
aller Dinge“13 zum bloßen Regulativ der praktischen Vernunft domestiziert und
damit die Eschatologie politisch verabschiedet, bleibt der imminente Messianismus
bei Hölderlin als politisch-religiöser Arm seiner Poesie und Philosophie erhalten.
Mit dieser Vorstellung beglaubigt Hölderlin im Gegensatz zum transzendentalen
Geschichtsdenken Kants und anders als in der reinen Transzendenz der christ
lichen Theologie den Einbruch des Jenseitigen ins Diesseits, die innerweltliche
Synthese von Politik, Kunst und Religion. Das Monströse der späten Sprache in
Entwürfen und Übersetzungen, die Sprachtorsi der letzten Fragmente und Skiz
zen widersprechen dabei keineswegs seinem ungeheuren Synthesewillen. Was für
Kant oder Lessing zum rein immanenten Fortschritt einer vernünftigen Ge
schichte gerät und die christliche Orthodoxie zum jenseitigen Ereignis vertagt,
wahrt bei Hölderlin den Charakter einer Naherwartung. Mit der prophetischen
Aspiration verbindet sich die politisch-ästhetische Ambition: den Dichtern und
Hofmeistern, den Professoren und Gelehrten erwächst messianische Kompetenz.
Um seine messianischen Ideen aus dem theologischen Bereich abzuleiten und
weltwirksam werden zu lassen, braucht Hölderlin ein Medium poetischer
Vermittlung: die Mythologie. Anknüpfend an die Synthesespekulationen seiner
Zeit, das Projekt, Poesie, Philosophie und Religion im Gewand einer „neuen
Mythologie“ zu verschränken, ist ihm die „Mythe“ die Mitte, aus der die
Vorbilder dieser poetisch-politischen Messiasse hervorgehen. Erst mythische
Helden wie Herakles, Odysseus, Achill, Aias und Jason verleihen der ideellen
Kontur des messianischen Reinigers und Befreiers ihre plastische Gestalt.
„Plastizität“ meint hier nicht Schönheit oder Ebenmaß, sondern Bildhaftigkeit
und Drastik der Anschauung. Hölderlin scheut auf seiner Suche nach
mythomessianischen Figuren und Vorbildern keineswegs das Monströse (etwa
Chiron) oder Fragmentarische (die ausufernden Namenslisten der späten
Notizen).
Diese Synthese aus bildloser Abstraktion (der messianischen Idee) und bild
reicher Konkretion (der vielen mythomessianischen Vorbilder) begründet
Hölderlins „messianische Mythogenese“. Mythogenese deswegen, weil Hölderlin
im Prozeß der messianischen Aufladung griechischer Heldengestalten seine my
thischen Vorbilder steigert, verändert und neu hervorbringt. Indem er sie mit dem
Substrat eines abstrahierten, überfigürlichen und überpersönlichen Messianismus
jenseits irdischer Bildlichkeit anreichert, generiert er neue Mythen, „messianische
Heroen“ oder „heroische Messiasse“. Hölderlins „Reiniger Herkules“, sein
13 Immanuel Kant: Das Ende aller Dinge (1794)