Page 16 - Robert Charlier: Heros und Messias (1999)
P. 16
14 Einleitung
Ikarus- oder Phaethongedicht im Stuttgarter Foliobuch.16 Allerdings ist Hölderlin
schon früh mit den beiden Flugmythen durch seine Ovid-Übersetzungen vertraut
(‘Leander an Hero’; ‘Phaethon. Nach dem Ovid’).
Die Mythisierung erlaubt es, zwischen eschatologischer Diesseits- und
transzendenter Jenseitshoffnung zu vermitteln. Mit den mythologischen Ar-
beitsbegriffen ausgedrückt: Hölderlin lädt seine Heldenfiguren mit Zügen eines
tätigen und wirkmächtigen, herakleischen Messianismus auf (z. B. Herakles,
Odysseus). Die jenseitige, vertagende Tendenz dagegen mythisiert er inproteischen
Helden wie Chiron, Johannes oder im gereiften Hyperion, die ihre messianische
Sendung in dunkler und „dürftiger“ Zeit wahren, indem sie sie verbrämen: als
pädagogisches oder ästhetisches Projekt. Die proteische Stufe vermittelt dabei, wie
noch zu zeigen sein wird, zwischen ikarischem und berakleischem Zustand.
Die heroischen Mythisierungen der Messiasfigur zielen bei je unter
schiedlicher Gewichtung ihrer ikariscben oder herakleischen Tendenz insgesamt ab
auf eine Mitte zwischen tätig-immanenter und geistig-transzendenter Form. Wich
tig dabei: die resignative „Pneumatisierung“ oder der desillusionierte „Widerruf“
der politischen und philosophischen Hybris der Frühzeit ist nicht Hölderlins letz
tes Wort, sondern nur eine Tendenz in einem komplexen Schwerefeld.17 Tat- und
Geistprinzip werden einander vielmehr harmonisch entgegengesetzt und
chiastisch verschränkt. Der christliche Trinitätsgedanke wird dabei zu einer
göttlichen Mehreinigkeit pluralisiert, ohne daß sich die Struktur des kommenden
Gottes in beliebiger Vielfalt auflöste. Bis zuletzt bleibt die diesseitig politische
Kontur in den Charakterzügen der messianischen Heroen erhalten. Hölderlin läßt
den Arm seines Herakles nicht sinken; Odysseus kehrt, so die stille Hoffnung
Hölderlins für die deutschen Intellektuellen, in sein „Ithaka“ zurück, um es von
der Herrschaft der Freier zu erlösen.18 Hölderlin modifiziert mit seiner
messianischen Heldenkonzeption Schillers Künstlerfigur, die in einem „fremden“
16 Die Eintragung lautet: „Katastr. (Ikarus.) Phaeton.“ (FHA Suppl. III: 130 - vgl. auch Stutt
garter Foliobuch, Faksimile-Edition. Blatt 50 b 2° verso; die Klammer markiert eine
Streichung). Korrekt ist „Phaethon“ von griech. <I><xe8cov für „der Leuchtende“, ein Bei
name des Helios, zugleich Name seines Sohns.
17 Vgl. zur „Pneumatisierung“ Schmidt 1993: 185-288; besonders 197-216; zur These vom
„Widerruf“ Schmidt 1978: 1-15. Schmidt verwendet den Begriff „Palinodie“ für Hölderlins
„dichterischen Widerruf“, eine literarische Gattungsbezeichnung für die ironische, oppor
tunistische oder resignative Zurücknahme der Aussage eines Gedichts bei strikter Treue zu
seiner ursprünglichen Form (Wilpert ‘ 1979: 576/1-2). Vgl. dazu auch Hölderlins gleichna
mige Ode.
18 „Es ist auch herzzerreißend, wenn man eure Dichter, eure Künstler sieht, und alle, die den
Genius noch achten, die das Schöne lieben und es pflegen. Die Guten! Sie leben in der
Welt, wie Fremdlinge im eigenen Hause, sie sind so recht, wie der Dulder Ulyß, da er in
Bettlersgestalt an seiner Türe saß, indes die unverschämten Freier im Saale lärmten und
fragten, wer hat uns den Landläufer gebracht?“ (KHA II: 170, ZZ. 18-24)