Page 241 - Robert Charlier: Heros und Messias (1999)
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Paulus und Chiron                     239


       stigen  Artgenossen,  die  Minos,  dem  Herrscher  der  Unterwelt,  als  infernalische
       Wachtruppe  dienen,  und  gewährt  den  beiden  Ankömmlingen  freies  Geleit
       {Inferno XII, 55-100). Bei Dante ist Chiron als einzige Lichtgestalt im Umkreis des

       Minotaurus  (ebd.  VV.  12ff.), des Höllenhundes  (ebd. VV. 34ff.)  und der Roßmen­
       schen  angesiedelt,  die  als  Wächter  und  Schergen  fungieren  (VV. 73ff.).  Während
       Mischwesen und Kentauren bei Dante die Verdammten bewachen und einige Fol­
       tern  sogar  selbst  ausführen,  ist  Chiron  bei  Hölderlin  selbst  ein  Gequälter  und
       Leidender.  Als  Nachtgestalt  ist  er sich  aber  in  seinen  Gesichten  des  „(D)runten“
       und  des  „gewaltig  Feuer“  (unter)  der  Erde  bewußt  (‘Chiron’,  V. 30  und  V. 32).
       Die Gestalt  seines Körpers versinnbildlicht  das  Zugleich von  Sündenleid  und Er­
       lösungsgewißheit  (vgl.  VV. 33-35:  „wenn einer dann /  [...] lieblich und bös [...] ist
       [...]“).  Darüberhinaus  erinnert  Chirons  Monstrosität  von  ferne  an  eine  Teufels­
       gestalt,  was  ein  typisch  paulinisches  Vermächtnis  wachruft:  die  Hypostasierung
       der  Satansgestalt  für  das  christliche  Denken  aus  dem  Geiste  des  jüdisch-antiken
       Dämonenglaubens (vgl. Klausner 1950: 439-441).
           Mit  Chirons  Unsterblichkeitstausch  impliziert  Hölderlin  kunstvoll  das  In­
       einander  von  tragischer  Zwangsläufigkeit  und  der  Todesfreude  eines  Märtyrers,
       eines  „Todeshelden“  (‘Patmos’  I,  V.  105).  Die christlichen  Todeshelden und Mär­
       tyrer  dienen  Hölderlin,  wie  gezeigt,  als  Pendant  der  antiken  Hybrishelden  wie
       Prometheus,  Tantalus und Ixion. Sie sind ihm damit die eigentlichen Überwinder
       des  mythisch-tragischen  Zustands.  Hölderlin  überträgt  seinem  Kentauren  diese
       Schwellenfunktion zwischen fatalistischer Mythik und messianischem Martyrium,
       indem er die Episode um Chiron  und Prometheus christlich travestiert.  In  seinen
       Gesichten schaut Chiron das Höllenfeuer der Verdammung (‘Chiron’, V. 32)  und
       das Licht des Sol Christus (VV. 41-45) zugleich; er hütet den Seelenfunken der Per-
       fektibilität gleichermaßen wie er das Brandmal der Triebhaftigkeit trägt.
           Wenn  Goethes  Chiron  Faust  auf dem  Rücken  über  den  Fluß  Peneios  trägt

       {Faust II, 7333ff.),  dann vergegenwärtigt er damit die Mischanatomie aus Roß und
       Reiter, auf die auch Hölderlin anspielt. Chiron, der „edle Pädagog“ (ebd. V. 7337),
       fordert seinen Schüler Achill nämlich auf:
                      N im m  nun ein Roß, und harnische dich und und nimm
                       Den leichten Speer, o Knabe! [...] (VV. 49f.)
       Achill  soll  es  seinem  Lehrer  in  geistiger  Hinsicht  ebenso  gleichtun,  wie  es  ihm
       aufgegeben  ist,  die  heroische  Waffen-  und  Kriegskunst  des  Herakles  einzuüben.
       Der „Speer“  (ebd.  V. 50)  ist wie die Keule eine durchaus herakleische Waffe, die an
       den  vergifteten  Pfeil  erinnert,  mit  dem  Herakles  den  Chiron  unabsichtlich  und
       tödlich verletzte  (ebd.  V. 22).221  Indem Chiron  den Knaben  auffordert,  ein  Pferd



        221  „Denn als Herkules dereinst bey ihm [= Chiron, R. C.] einkehrete, so fiel diesem ein Pfeil
           aus dem Koecher, und dem Chiron in den Fuß, indem sie solche besahen. [...] Weil dieser
           Pfeil nun in dem Blute der lernaeischen Schlange eingetunket war, so empfand er nicht nur
           den allerentsetzlichsten Schmerz davon, sondern es konnte die Wunde auch auf keine Art
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