Page 162 - Robert Charlier: Google statt Goethe?
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chord, Hammerflügel und Klavier kündigte sich an und sollte sich letztlich
als unumkehrbar erweisen. Die großen sinfonischen Instrumental werke der
Wiener Klassik traten damit an die Stelle der – aus der Sicht von Haydn und
Mozart eigentlich ›klassischen‹ – vielstimmigen Vokalmusik. Deren Tradition
war seit dem Mittelalter geistlich dominiert. Sie reichte von den liturgischen
Gesängen, die noch in Neumen notiert waren bis zum Barock. Manifest wurde
die Musik des Barockzeitalters in den genialen Gipfelwerken von Johann
Sebastian Bach (1685-1750) und seiner Söhne. So trat die Homo phonie an
die Stelle der Polyphonie (→Kanon; Bedeutung Nr. A.2).
Eine tiefergehende Wechselwirkung zwischen Wiener und Weimarer
Klassik ist oft bezweifelt worden. Im Mittelpunkt stand dabei der vermeint-
liche Umstand, dass Goethe nicht nennenswert mit Komponisten wie Ludwig
van Beethoven, Wolfgang Amadeus Mozart oder Franz Schubert (1797-1828)
kooperierte. Vielmehr gab er Musikern der zweiten oder dritten Reihe für die
Vertonung seiner Lieder den Vorzug, darunter Johann Friedrich Reichardt
(1752-1814), Philipp Christoph Kayser (1755-1823) oder Carl Friedrich Zelter
(1758-1832). Diese angebliche Missachtung der Wiener durch die Vertreter
der Weimarer Klassik ist zum Stereotyp geworden. Aber diese Sichtweise ist
problematisch. Denn von den drei genannten ›Wiener Klassikern‹ existieren
ebenfalls hoch karätige Vertonungen Goethe’scher Dichtungen. Auch reicht
die oft behauptete Indifferenz des großen Weimarer Dichters gegenüber den
Wiener Jahrhundertgenies viel tiefer. Goethe erstrebte für seine Lieder und
Ge dichte Vertonungen, die das poetische Wort in den Mittelpunkt stellten.
Der Komponist sollte dem Dichter dienen und nicht umgekehrt. Dazu bevor-
zugte er das durchgesungene, strophische Lied, etwa im Sinne des Volkslieds
und im Gegensatz zum romantischen Kunstlied. Diese Technik der dem Text
dienenden Liedkomposition beherrschte der Berliner Maurermeister Carl
Friedrich Zelter auf unnachahmliche Weise. Der Kunstlied-Artistik eines
Schubert stand Goethe dagegen ebenso skeptisch gegenüber wie den Verto-
nungen Beet hovens. Die Beethovenschen Goethe-Lieder sind originäre und
genial-ungestüme Kompositionen. Als ›absolute‹ Musik folgen sie allein dem
Kunst willen ihres Komponisten und den Gesetzmäßigkeiten seines einzigar-
tigen Gestaltungs willens. Aus Goethes Sicht sind sie daher zu eigenmächtig.
Als Dichter und Literat, der zu Lebzeiten bereits Weltruhm und quasi kultische
Verehrung genoss, entschied er sich deshalb für einen Kompositionsstil, der
die Musik dem Genius des Dichers konsequent unterordnete.
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