Page 164 - Robert Charlier: Google statt Goethe?
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Zwillingsmetapher
Im zweiten Buch von Goethes West-östlichem Divan (1814/1819) erklärt
sich das lyrische Ich zum geistigen ›Zwillingsbruder‹ des persischen Dichters
Mohammed Schemsed-din Hafis (1319-1389): »Und mag die ganze Welt
versinken! | Hafis, mit dir, mit dir allein | Will ich wetteifern! Lust und Pein
| Sei uns den Zwillingen gemein!« (Buch Hafis, ›Unbegränzt‹; zitiert nach
der Weimarer Ausg. I. Abt., Bd. 6, 1888, S. 39).
Als bildhafte Bezeichnung für ›Bruder im Geiste‹ oder ›enger Geistesver-
wandter‹ − ungeachtet aller historischen und kulturellen Distanz − übernahm
Goethe die Zwillingsmetapher möglicherweise leicht abgewandelt aus den
orientalistischen Quellen, die seinen Divan speisten. So schwärmte der von
Goethe überaus geschätzte Orientalist Joseph von Hammer-Purgstall in
der Vorrede zu seiner zweibändigen Hafis-Übersetzung: »Horaz und Hafis
glänzen unter den Sternbildern des Ruhmes, an die sie mit kühnem Scheitel
emporstreiften, als ein lyrisches Zwillingsgestirn, jener am westlichen, dieser
am östlichen Himmel.« (Der Diwan von Mohammed Schemsed-din Hafis.
Aus dem Persischen zum erstenmal ganz übersetzt von Joseph v. Hammer.
Erster Theil, Stuttgart und Tübingen 1812, S. I). Als Kanonbild erinnert die
Sternenmetaphorik wiederum an den Plejadentopos (→Siebengestirn). Auch
bei Goethe steht die Zwillingsmetapher als Sinnbild für die produktive Wech-
selwirkung zwischen Orient und Okzident (→Dioskurentopos).
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