Page 159 - Robert Charlier: Google statt Goethe?
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Wertherfieber (Werther-Effekt)
Historisch belegtes Phänomen der kollektiven psychologischen Faszination
durch die Wertherfigur Goethes, insbesondere mit Blick auf die literarische
Inszenierung von dessen Selbstmord (Wertherismus). In der empirischen
Sozialwissenschaft spricht man etwas distanzierter vom sogenannten Werther-
Effekt. Der Terminus wird immer dann bemüht, wenn es in der Folge der
medialen Berichterstattung über einen spektakulären Selbstmord zu Nachah-
mertaten kommt. In seiner patho logischen Bedeutung bezeichnet der Begriff
zunächst die historische Tatsache, dass es infolge der Veröffentlichung
von Goethes Sturm-und-Drang-Roman zu einer Welle der unseligen realen
Werther-Nachahmung kam. Die traurige Zunahme von Selbstmorden unter
enttäuschten oder liebeskranken jungen Männern ist historisch belegt und
kann als gesichert gelten. Aus den Quellen sind etwa 50 Fälle in zeitlicher
oder kausaler Verbindung zum Erscheinen des Romans Die Leiden des jungen
Werthers 1774 nachweisbar. Dabei spielte die im Briefroman be schriebene
Motivation (Liebes- und Weltschmerz) sowie die Ausführung des Freitodes
durch Erschießen mittels Pistolen eine zentrale Rolle. Erst an zweiter Stelle
charakterisiert der Begriff harmlosere Nachahmungsphänomene, wie etwa
die aufkommende Mode, sich genau so zu kleiden wie Goethes tragischer
Liebesheld (→Werthertracht). Mit einigem zeitlichem Abstand entstand auch
ein literarisches Wertherfieber, das sich in einer Fülle von entsprechenden
Brief romanen im typischen Wertherton niederschlug (Wertheriaden, Werther-
literatur). Darunter befanden sich allerdings auch Versuche, das Pathos des
epochemachenden Werks zu brechen oder sogar zu parodieren. So machte
der Berliner Aufklärer Christoph Friedrich Nicolai (1733-1811) in seiner
Kontra faktur Freuden des jungen Werthers; Leiden und Freuden Werthers
des Mannes (1775) die Gefühlsseligkeit und die empfindsame Sprache des
Briefe schreibers zum Ziel seiner beißenden Satire. Goethe konterte noch
im gleichen Jahr mit polemischen Spottgedichten wie Nicolai auf Werthers
Grabe; Die Leiden des jungen Werther an Nicolai sowie Anekdote zu den
Freuden des jungen Werthers (alle 1775).
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