Page 161 - Robert Charlier: Google statt Goethe?
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Geschmacksurteil – oder die ihn heteronom bestimmen, z. B. in seiner Rolle
als Schüler, Lehrer, Leser, Literaturkenner, Literaturwissenschaftler oder
Kritiker. Kernproblem dieses Ansatzes bleibt das Zugleich von absichtlicher
Gemachtheit und unwillkürlicher Entstehung kano nischer Bewertungen. Diese
schier unauflösbare Dichotomie versuchen die Ver treter dieser Theorie mit
einer sophistischen Definition gerecht zu werden. So erfolgten Wertungen im
Rahmen literarischer Kanonbildung zwar »kontingent, aber nicht willkürlich«
(Winko, in: Arnold 2002, S. 11). Ein Hilfskonstrukt bildet der Rückgriff auf
die Vorstellung von einer ›unsichtbaren Hand‹, die bei solchen Prozessen am
Werke sei. Dieser Begriff geht auf einen metaphorischen Topos des Ökonomen
Adam Smith (um 1723 bis 1790) zurück. Im vierten Buch seiner Schrift An
Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations (1776) spricht
Smith davon, dass jedes Marktgeschehen unter dem inkommen surablen Ein-
fluss einer »invisible hand (of the market)« stehe. Smith zufolge gelte dies
unabhängig von den Einzelintentionen der beteiligten Akteure.
Wiener Klassik
Der Terminus bezeichnet das epochale Schaffen der drei Komponisten
Joseph Haydn (1732-1809), Wolfgang Amadeus Mozart (1756-1791) und
Ludwig van Beethoven (1770-1827) in den Jahren um 1770 oder 1780 bis nach
1800. Die Epochen bezeichnung steht auch verallgemeinernd für die Werke
und das Wirken der drei beteiligten Komponisten sowie stilverwandter Zeitge-
nossen. Auratisch konnotiert der Begriff zugleich den Höhepunkt der abend-
ländischen Instrumental musik. Die Attribuierung ›Wiener‹ Klassik verdankt
sich der Tat sache, dass alle drei genannten Komponisten in der Hauptstadt der
Donau monarchie außerordentliche musikalische Gipfelleistungen vollbracht
haben. Aus Wien stammt allerdings keiner der drei. Wien ist damit lediglich
›Wiege‹ der klassischen Schlüsselwerke und Entstehungsort eines jeweils
singulären Weltruhms. Die Wiener Schaffensperioden der drei Komponisten
verhalfen der homophonen, auch ›absolut‹ genannten Instrumentalmusik
zum endgültigen Durchbruch. Auf der Ebene der musikalischen Großform
war es die Sinfonie, auf der Mikroebene die Sonatenform, die Haydn, Mozart
und Beethoven in genialer Weise perfektionierten. Musikpraktisch fand das
sogenannte »Generalbass-Zeitalter« sein Ende. Die Ablösung traditioneller
Instrumente wie Cembalo oder Orgel durch Tasteninstrumente wie Klavi-
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