Page 158 - Robert Charlier: Google statt Goethe?
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» ›Weltliteratur‹ zuerst bei Wieland«, in: Arcadia 22 (1987), S. 206-208.
               Weitere markante (und teilweise frühere) Verwendungen des Begriffs finden
               sich allerdings auch bei August Ludwig Schlözer (1772) sowie bei August
               Wilhelm Schlegel (1803/04). Erst durch Goethe wurde das Wort jedoch
               zu einem programmatischen Begriff. Im modernen Kanon der philologi-
               schen Dis ziplinen ist der ›Weltliteratur‹ in Form der ›Komparatistik‹ (auch:
               ›Allgemeine und vergleichende Literaturwissenschaft‹) ein eigen ständiges
               Fach gewidmet. Goethe verwendete das Wort allerdings noch in der Bedeu-
               tung ›Literatur von Weltrang‹, ›Literatur mit Weltbedeutung‹. Dies ent spricht
               analogen Goetheschen Wortprägungen wie Weltereignis und Weltgeschehen:

                  »[Goethes] Begriff der Weltliteratur, wie er ihn von Wieland übernimmt und seit
                  1827 in Rezensionen, Aufsätzen, Briefen und Gesprächen entwickelt, entspricht
                  weder dem modernen und trivialen quantitativen Konzept einer Gesamtheit der
                  Literaturen aller Zeiten, Kulturen, Sprachen und Völker, noch der qualitativen
                  De finition als Summe oder Kanon der über die Nationalliteraturen hinausragenden
                  literarischen Meisterwerke von zeitlosem Rang und universaler Gültigkeit. Wie
                  in den parallelen Begriffen Weltverkehr, Welthandel und z. T. Weltgeschichte,
                  deren globale Dimensionen nationale Eigenarten und Sonderformen nicht aus-
                  schließen, ist Weltliteratur für [Goethe] ein dynamischer Begriff der zunehmenden
                  inter nationalen Kommunikation, des fortschreitenden geistigen Austauschs der
                  Völker und der wechselseitigen künstlerischen Beeinflussung ihrer Literaturen,
                  und zwar nicht nur durch gegenseitiges Kennenlernen ihrer Werke und Achtung
                  vor deren nationaler Eigenart, sondern darüber hinaus auch durch persönliche
                  Begegnungen der Schriftsteller und ihre gemeinsame, harmonische und weltoffene
                  gesellschaftli che Wirksamkeit für die Völkerverbindung und das Humanitätsideal.
                  [Goethes] Definition von Weltliteratur zielt daher nicht auf einen kumulativen
                  Literatur begriff […]. [Goethes] Vorstellung von Weltliteratur ist nichts bereits
                  Bestehendes, sondern eine Forderung, eine Aufgabe für die Gegenwart und die
                  Zukunft.« (Wilpert  1979, S. 1164)
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                  Goethe kann in der Geschichte des modernen Hochdeutsch mit einigem
               Recht als der Schöpfer einer ganzen Familie von Wörtern gelten, die mit
               Welt- beginnen. Die heute geläufige Deutung des Begriffs im Sinn von ›zu

               einem weltweit gül tigen, kumulativen oder sogar geschlossenen Kanon gehö-
               riges Stück Literatur (von höchstem Rang)‹ ist jedoch erst im Anschluss an
               Goethe entstanden.







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