Page 160 - Robert Charlier: Google statt Goethe?
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Werthertracht
Vielfach zitierter und wohl auch in irrtümlicher Weise variierter Bekleidungs-
stil von Goethes Hauptfigur in Die Leiden des jungen Werthers (1774).
Die unverwechselbare Kleidung wird im Rahmen des Briefromans genau
be schrieben: blauer Frack mit Messingknöpfen, gelbe Weste und Kniehosen,
schwarze Stulpenstiefel mit braunen Aufschlägen und grauer runder Filzhut
mit breiter Krempe. Wichtiger als die farbigen Details, die sich eigentlich nur
an die schlichte norddeutsche Bürger tracht nach englischem Muster anlehn-
ten, war die literarische Stoßrichtung. Goethe gewandete seinen Werther in
einer Art und Weise, die der gezierten Rokoko mode jener Zeit genau entge-
gengesetzt war. Als der Held der Empfindsamkeit und des Liebesschmerzes
gelangte Werther in diesem Aufzug in den Kanon der modernen Weltliteratur.
Historisch belegt ist, dass Goethe und einige wenige Freunde diese Tracht
während der ersten Schweizer Reise auch selbst trugen und diese Mode zeit-
weise in Weimar publik machten.
Wertung, literarische
Der Begriff bezeichnet den Akt oder den Vorgang der Verknüpfung norma-
tiver (›absoluter‹) oder relationaler (›relativer‹) Zuschreibungen (Attribute) mit
literarischen Texten. Die daran anknüpfende Wertungstheorie beschreibt alle
Phänomene der literarischen Kanonbildung als Teil einer übergreifenden Hand-
lungstheorie (vgl. Herrnstein-Smith 1988; Bode 1989; von Heydebrand/Winko
1996; s. Bibliografie, unter Punkt A.II.1). Die handlungs orientierte Theorie
literarischer Wertung geht dabei von folgenden Grund gedanken aus: Es gibt
keinerlei objektivierbare Kriterien oder absolute Eigen schaften von ästhetischer
oder literarischer Qualität. Objektive Maßstäbe für unanfechtbare kanonische
Hierarchisierungen existieren daher nicht. Vielmehr steht der urteilend und
interpretierend ›handelnde‹ Mensch im Mittelpunkt. Ausgangspunkt bildet die
Beschreibung wichtiger Faktoren im Prozess wertender Kanonbildung, wie
etwa psychologische Motivation oder die Beschaffen heit der menschlichen
Sprache. Aus dieser Sicht erweist sich Kanon bildung als die Summe oder das
Ergebnis menschlicher Werthandlungen (→Axiologie). Konsequent beleuchtet
dieser Ansatz daher die »axiologischen« Handlungswerte, die der Mensch
seinen Entscheidungen entweder autonom zugrundelegt – etwa in seinem
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