Page 22 - Robert Charlier: Google statt Goethe?
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die Fähigkeit, sich innerhalb einer sozialen Gruppe konform - also gleich-
               sam in Formation - zu verhalten, aktualisieren und sogar noch potenzieren.
               Eine gültige Deutung von Kanonformation als Spielart biologisch-kultureller
               Information müsste die skizzierten Zusammenhänge allerdings tiefergehend
               beleuchten. Mit Blick auf neuere Phänomene der Kanonbildung erscheint die
               Übertragung evolutionärer Mechanismen der Wissenskanonisierung auf kol-
               laborative Strukturen im Zeitalter von Online-Enzyklopädien wie Wikipedia
               oder den kooperativen Konzepten von Autorschaft im sogenannten Web 2.0
               jedenfalls vielversprechend.



                                   2. Der KANWN des Polyklet


                  Im Unterschied zu den konkreten Ausprägungen eines Kanons in so gut
               wie sämtlichen Kulturkreisen und Weltsprachen erscheint das Nachdenken
               über das Zustandekommen oder die Beschaffenheit von Kanons primär im
               ›westlichen‹ Diskurs perspektiviert. So avancierte der amerikanische Litera-
               turwissenschaftler Harold Bloom als Apologet eines westlichen Kanons zum
               Starkritiker und damit selbst zu einer Art ›Klassiker‹. Sein Konzept eines
               Western Canon wurde zudem auch in einem polemischen Sinne kanonisiert,
               nämlich als fixes Feindbild seiner multikulturalistischen Gegner. Aber die

               monokulturelle Diskursperspektive wurzelt bereits in der Sach- und Begriffs-
               geschichte des Wortes kanōn. Der Begriff erscheint Europa bei seiner Geburt
               gleichsam in die Wiege gelegt. Es handelt sich nämlich um eine altgriechische
                            ,
               Entlehnung (   , Maskulinum, mit Betonung auf dem langen Omega)
                           o
               aus dem Semitischen, woher das Maskulinum seine ursprüngliche Bedeutung
               bezieht im Sinne von ›(gerades) Rohr‹ oder ›Rohrstab mit normierter Länge‹
               zur Fertigung von Messlatten oder Waagebalken. Aus dieser Bedeutung resul-
               tiert die bereits in der Antike abgeleitete Bedeutung im Sinne von Maßstab,
               Muster, Richtmaß, auch: Regel oder Regelwerk. Sprachlich ist die semitische
               Wortwurzel heute noch im engl. Wort cane (Zuckerrohr, Rohrstock) oder in
               der ital. Bezeichnung für eine entsprechend geformte Nudel (canna; cannello,
               cannelloni) sowie im deutschen Wort Kanone lebendig.

                  Im 5. Jahrhundert v. Chr. verfasste der griechische Bildhauer Polykleitos
               von Argos, tätig etwa von 450 bis 410 v. Chr. - in der Altphilologie auch
               einfach Polyklet genannt - mit seiner heute verschollenen Schrift Kanon



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