Page 23 - Robert Charlier: Google statt Goethe?
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(KANWN) ein Regelwerk, das die Idealmaße für die plastische Gestaltung
der menschlichen Körperproportionen festlegte. Das Werk sollte bereits für
die griechische Antike zu einem klassischen Paradigma werden. Denn Poly-
klets Schrift war die erste bedeutende abendländische Festschreibung eines
ästhetisch Schönen und Wahren, das in unauflösbarer Verbindung mit dem
ethisch Guten gedacht wurde. Die christliche Tradition hat diesen normativen
Kanonbegriff als Prinzip alteuropäischer Konsens- und Identitätsstiftung
transzendiert, aber auch dogmatisiert. Man denke hierbei an kanonische
Offenbarungsschriften, manifest z. B. im Gegensatz zwischen kanonisierten
Evangelien und den sogenannten Apokryphen. Dabei handelt es sich um
Überlieferungen, die von den kirchlichen Autoritäten nicht als authentisch
angesehen und daher aus dem Textbestand der heiligen Schriften ausgeson-
dert oder sogar ausgeschlossen wurden. Auch der Begriff eines ›kanonischen
Kirchenrechts‹ ist in diesem Kontext zu nennen.
Eine knappe Auswahl von historischen Bedeutungen des Kanonbegriffs
sei im Folgenden noch einmal kurz zusammengefasst:
(1.) Im Altgriechischen bedeutet der aus dem Semitischen entlehnte
Wortstamm des Begriffes (a) Schilfrohr zur Herstellung von Mess- oder
Maßstab, Richtscheit oder Waagebalken. Sachgeschichtlich ist dabei mit
großer Wahrscheinlichkeit die Bestimmung von Abständen oder Proportionen
(Längenverhältnisse u. ä.) aus der ursprünglichen Funktion des Richtscheits
zur Gewährleistung von Geradheit (einer geraden Einteilung) entstanden.
Daraus erfolgt die zentrale Bedeutungsübertragung im Sinne von ›Regel‹,
›Norm‹, so dass das Wort fortan (b) zum titelgebenden Begriff für ein grund-
legendes, mustergültiges und Maßstäbe setzendes Werk in der Kunsttheorie
oder Philosophie werden konnte. Die Verwendung des Begriffes im Sinne
von ›Bücherkatalog‹, ›Sammlung mustergültiger Werke oder Schriften‹
erfolgte aber defintiv erst in der Neuzeit, so dass das Wort ›Kanon‹ in dieser
Bedeutung mit Blick auf das antike Schrifttum lediglich rückprojektiv (und
gleichsam in Anführungszeichen gesetzt) verwendet werden kann (vgl. Uwe
Dubielzig, in: Schmitt/Vogt 1993, S. 323-329; s. Bibliografie unter Punkt C).
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(2.) Seit dem Mittelalter wird auch ein mehrstimmiges, zunächst vokales,
später auch instrumentales Musikstück als Kanon bezeichnet.
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