Page 21 - Robert Charlier: Google statt Goethe?
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Umgekehrt orientiert sich z. B. die naturwissenschaftliche Kognitionsfor-
               schung an kulturell bedingten Phänomenen der ›Kanonisierung‹ innerhalb
               der menschlichen Wahrnehmung. Akzeptiert man diese Ausweitung des
               Begriffskonzeptes, so stellt sich die Frage nach der Abgrenzung zu beliebigen
               Mechanismen der informationellen Selektion in der belebten Natur. Lässt sich
               z. B. die Favorisierung der besten Überlebensmöglichkeit bei instinktgelei-
               teten Lebewesen mit Kriterien semantischer Kanonisierung beschreiben? Zu
               dieser Frage sei lediglich eine mögliche Vergleichsperspektive skizziert. Es
               ist eine biologische Tatsache, dass schwarm- oder staatenbildende Tiere zu
               komplexen konstruktiven Anpassungsleistungen in der Lage sind. Nimmt
               man dies zum Ausgangspunkt für eine Begriffsübertragung, so ergeben sich
               erstaunliche Möglichkeiten für das Modell einer universellen Kanonisierung.
               Wenn beispielsweise Schwarmfische bei der Konfrontation mit beutegierigen
               Raubfischen exakt gleichgerichtet ausweichen, so dass die Jäger es schwer
               haben, ein Individuum im Schutz des Massenverbandes zu erbeuten: Hat die
               natürliche Evolution damit nicht gleichsam eine ideale Reaktionsweise im
               genotypischen Programm der Heringe ›kanonisiert‹? Also z. B. das reflexhaft-
               vegetative Verhaltensmuster: Halte stets den gleichen Abstand zum jeweili-
               gen Nachbarn innerhalb des Schwarms. Oder basieren die Bauleistungen im
               Ameisenstaat nicht in gewisser Weise auch darauf, dass sich die Arbeiter auf
               kanonisierte ›Orientierungen‹ verlassen?

                  Ich abstrahiere hier bewusst von weiteren Beispielen für pseudokanonische
               Selektionsstrategien im Tierreich, wie sie z. B. im Bereich der individuellen
               Optimierung von Fluchtwegen oder der Futtersuche bei Säugetieren denkbar
               erscheinen. Denn angesichts des modischen Diskurses von der sogenannten
               Schwarmintelligenz ist nicht von der Hand zu weisen, dass überindividuelle
               Formen der Kumulation von Wissen und der Generierung von Wertvorstel-
               lungen gerade im Zeitalter der neuen Textmedien rasant an Bedeutung gewon-
               nen haben. Das einzelne Subjekt im ›Schwarm‹ der Netznutzer reproduziert
               bestimmte semantische Auswahl- oder ästhetische Wertentscheidungen vor
               allem durch massenhafte Wiederholung. Die Ranking-Algorithmen von
               Google basieren bekanntlich auf diesem komplexen Wechselspiel zwischen
               Mathematik, Technologie und Semantik (Semantik hier verstanden als Lehre
               von der sprachlichen Zuschreibung von Bedeutung). Folgt man dieser Natur-
               Kultur-Parallele, so favorisiert die technische Evolution durch das Internet
               kognitive Strategien, die eine uralte Errungenschaft des biologischen Lebens,



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