Page 42 - Robert Charlier: Google statt Goethe?
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und Leistungen in Literatur und Kunst, die ihre Pracht in der Regel an
einem Fürstenhof oder in einer Residenzstadt entfalten. Häufig geht eine
solche Blüte oder Blütezeit einher mit wirtschaftlichem Aufschwung, Wohl-
stand und einer wachsenden oder bereits gesteigerten politischen Macht
oder Bedeutung eines Gemeinwesens. Im unmittelbaren Kontext steht auch
der antike Topos von einem sagenhaften, mythisch glorifizierten goldenen
Zeital ter. So stilisierten die römischen Dichter Quintus Horatius Flaccus
(65-8 v. Chr.) und Publius Virgilius Maro (70-19 v. Chr.) die Herrschaftszeit
des Gaius Octavius, genannt Octavianus, zu einer solchermaßen singulären
Epoche der Weltgeschichte. Ein Jahr nach der Ermordung seines berühmten
Großonkels Gaius Julius Cäsar im Jahr 44 v. Chr. ging Octavian als Sieger
aus den Machtkämpfen hervor und wurde 31 v. Chr. zum Alleinherrscher
des Römi schen Reiches. Als erster römischer Kaiser Augustus brachte er
dem Reich Wohlstand und Frieden. Nach dem Tode des Kaisers wurde
die Zeit seiner Regentschaft deshalb auch Pax Augusta (Augusteischer
Frieden) genannt. Dieses Augusteische Zeitalter datiert auf den Zeitraum von
27 vor bis zum Jahr 19 nach Christus. Auch das imperiale Spanien der frühen
Neuzeit oder das ›Elisabethan Age‹ in England um 1600 bilden Beispiele
für solche kulturelle Blütezeiten als ›goldene Zeitalter‹. In der Renaissance
vereinten die oberitalienischen Städte des 13. und 14. Jahrhunderts ebenfalls
eine kulturelle Hochblüte mit wirt schaftlichem Wohlstand und wachsender
militärischer Macht. Dieses Zusammentreffen von ideeller Bedeutung und
materieller Stärke ist aber historisch nicht zwingend. Im heiligen römischen
Reich deutscher Nation stand die Kulturblüte in Philosophie und Literatur um
1800 vielmehr starken Krisentendenzen diametral entgegen. Die politische
Ohnmacht und territoriale Zersplitterung dieser Zeit ist sogar sprachbildend
geworden, so etwa in abwertenden oder ironischen Begriffen wie ›Kleinstaa-
terei‹ oder ›Duodezfürstentum‹. Historiker und Germanisten deuteten diese
historische Konstellation daher auch gerne als Kompensationsphänomen und
sahen darin Anzeichen für einen typisch deutschen ›Sonderweg‹.
»Canon-Bashing«
Der amerikanische Literaturwissenschaftler David Bromwich prägte den
saloppen Ausdruck als polemische Formel. Sie ist in etwa zu übersetzen mit
»notorisch-auf-den-etablierten-Literaturkanon-Einprügeln« und richtet sich
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