Page 17 - Robert Charlier: Heros und Messias (1999)
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H ölderlins messianische Mythogenese 15
Land aufwachsen und „reinigend“ wie „Agamemnons Sohn“ Orest in die Heimat
zurückkehren soll (SNA XX: 333, ZZ. 25ff.).
Beide Pole von Hölderlins Messiaskonzept treten im Werkverlauf in eine
spannungsreiche Wechselbeziehung. Auf die ikariscbe Dominanz in der Frühphase
zur Zeit des enthusiastischen Glaubens an die revolutionären „Messiasse“ in
Frankreich folgt die Ernüchterung. Literarisch spiegelt sich diese historische Er
fahrung im Hyperion, wenn das herakleiscbe Engagement Hyperions und
Alabandas im Freiheitskampf gegen die Türken enttäuscht wird. Aber nicht nur
das herakleiscbe Scheitern durch die katastrophale Entgegensetzung von geistigem
Entwurf und politischer Konsequenz bedeutet eine Gefahr für den ikarisch ge
stimmten „Messias“. Mit Empedokles gestaltet Hölderlin die zweite Konsequenz
ikarischer Hybris, nämlich die „prometheische“ Selbstverabsolutierung des antiken
Philosophen, der sich mit Gott gleichsetzt. Diese Transformation der
Prometheusgestalt (vom Heroisch-Positiven im Hyperion zur tragischen Nega
tivität im Empedokles entspricht Hölderlins Umwertung des Titanischen (vgl.
)
Häny 1948). Hölderlin mythisiert darin seine Jenaer Erfahrungen mit der ich-
fixierten Philosophie Fichtes in den Jahren 1794/95, die er als „tyrannisch“ emp
fand (KHA II: 205, ZZ. 1-3). Auch kommt darin seine wachsende Enttäuschung
über die Folgen der Revolution in Frankreich und Süddeutschland zum
Ausdruck.
So scheitern beide Wege, die der ikariscbe Intellektuelle mit messianischem
Anspruch einschlägt: der Weg in die verabsolutierte herakleiscbe Tat, den Terror,
die Greuel des Krieges; und der Weg in den verabsolutierten Gedanken, die über
steigerte Vorstellung eines objektlosen prometheischen Ichs im Sinne Schellings
oder Fichtes.
Der Konsequenz von herakleiscber Übertreibung und titanischer Selbst
verabsolutierung, also der Alternative: Tod in der Schlacht (den Hyperion sucht)
oder solipsistischer Selbstmord (von Alabanda und Empedokles), begegnet Höl
derlin mit einer Vermittlungsfigur, die ich in Anlehnung an den Mythos von
Proteus, dem geschickt sich verwandelnden Meergreis, die proteische Meta
morphose nenne. Vor allem die „Nachtgesänge“ um die Jahrhundertwende geben
Zeugnis von diesen „Proteuskünsten“ (ein Hyperionwort).19 Der prometheisch
gescheiterte Dichter (der Ikarus von einst) will die tatendurstigen und hybriden
Ideale seiner Jugendzeit durch die Zeiten der historischen Anfechtung, das Wel
lental eines geschichtlichen Winters retten. Mit dem späten Odenwerk um 1800
beginnend, unterzieht Hölderlin seine Dichtung einem proteischen
19 „Voll Lieb’ und Geist und Hoffnung wachsen seine Musenjünglinge dem deutschen Volk’
heran; du siehst sie sieben Jahre später, und sie wandeln, wie die Schatten, still und kalt,
sind, wie ein Boden, den der Feind mit Salz besäete, daß er nimmer einen Grashalm treibt;
und wenn sie sprechen, wehe dem! der sie versteht, der in der stürmenden Titanenkraft,
wie in ihren Proteuskünsten den Verzweiflungskampf nur sieht, den ihr gestörter schöner
Geist mit den Barbaren kämpft, mit denen er zu tun hat.“ (KHA II: 170, ZZ. 25-33)