Page 240 - Robert Charlier: Heros und Messias (1999)
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           wiederum  nicht.  Er  kann  nur  sprachlich  und  prophetisch  von  einer  neuen  Ära
           künden,  sie  aber  noch  nicht  herbeiführen.  Das  bleibt  Achill  Vorbehalten.  Der
           kann  sich  als herakletscher Held  in  den  Kinderschuhen  in  freier  Entgegensetzung
           von Körper und Geist, von vita activa und vita contemplativa, auf das  Ende vor­


           bereiten.
               Hölderlin  verarbeitet  mit  der  kentaurisch-paulinischen  Konstruktion  des
           Gedichts  die prekäre Lage  des  hesperischen  und  modernen Dichters.  Mit  Chiron
           läßt Hölderlin seine lyrische persona noch tragisch scheitern; die mythisierten Ich-
           facetten  in  der  Gesamtanlage  der  Ode  lassen  aber  Lösungen  des  „kentaurischen“
           Problems zu. Prometheus, Herakles und Achill verkörpern solche Hypostasen des
           kentaurischen  Ichs  entweder  als  dessen  überwundene  Phasen  oder  als  mythische
           Wunschidentitäten. In kunstvoller Abstufung ihrer Präsenz treten die drei Helden

           dabei  ins  mythische  Bild  und  lyrische  Bewußtsein:  Abwesend im  Sinne  von
           „vergangen“ und „überwunden“  ist Prometheus, der die reine Hybris inkarniert als


           eine  Existenz-  und Reflexionsstufe,  die  Chiron  (als alter ego Hölderlins)  mit  dem
           Scheitern des Empedokles, Alabandas oder Eduards längst hinter sich gelassen hat.
           Konsequent  bleibt  der Name  des  hybriden  Schöpferhelden  im  Verlaufe  des  Ge­
           dichtes auch ungenannt  und wird nur durch die Mythenkonstellation angedeutet.
           Abwesend im Sinne von „ausstehend“ ist Herakles, die heroische Auskoppelung al­
           ler  kriegerischen  und  politisch-messianischen  Wunschphantasien,  die  der  sieche
           Kentaur selbst  nicht  mehr  in  die  Tat  umsetzen  kann.  Herakles  wird präfiguriert
           durch  Achill;  folgerichtig  gilt  auch  Chirons  berühmtestem  Schüler  (und
           Hölderlins  Lieblingshelden)  Achill  die  Klimax  des  Gedichts.  Das  athletisch­
           ästhetische  Erziehungsprojekt,  das  der  große  Weise  in  der  letzten  Strophe
           prophezeit, bleibt damit nur Interimslösung. Individuelle und universelle Eschato­
           logie werden verwoben, Kunst und Erziehung sind hier kein Kompensat, sondern
           Vorstufe für die endgültige  Veränderung der Welt.  Damit  wendet  sich Hölderlin
           fundamental  gegen  Schiller  oder  Lessing  und  ihren  rein  „pädagogischen  Idealis­
           mus“ (Taubes 1991: 74).
               Die Schwellenfunktion  des  sagenhaften Kentauren  stellt  ihn  im  übrigen  den
           großen  Mittlergestalten  wie  Hermes  oder  Charon  an  die  Seite.  Unvergeßlich
           Goethes  Chiron  in  der  „Klassischen  Walpurgisnacht“,  wo  der  Kentaur  als
           Kundiger der Furten und williger „Uber-Setzer“ zwischen den Ufern und Sphären
           fungiert  (Faust II, 733Iff.).  Dieser Vorstellung folgt auch Hölderlin in seinem Pin-
           darfragment  ‘Das  Belebende’  mit  der Gleichsetzung von  „Begriff des  Centauren“
           und  „Stromgeist“  (KHA II: ZZ.  13-17).  Auch  der Chiron,  dem  Dante  und  Vergil
           bei ihrem Abstieg zum siebten Höllenkreis begegnen, hat eine Mittlerfunktion. Er
           erkennt die beiden Dichter als Lebende,  beschwichtigt  Nessus  und seine blutrün­



               f/nsterblichen [...] (V.  115) - doppelte oder parallele Negation: „Nichts vor dir, /  Nur Eines
               weiß ich. Sterbliches bist du nicht.“(yV. 20f.); „Von heute aber nicht, nicht ««verkündet ist

               er“  (V. 25);  „Der  Allversammelnde,  wo  Himmlische  nicht, /   Im  Wunder  offenbar,  noch
               ««gesehn im Wetter [...] (VV.  103f.).
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