Page 240 - Robert Charlier: Heros und Messias (1999)
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238 V . Kapitel: D er H eros als M essias
wiederum nicht. Er kann nur sprachlich und prophetisch von einer neuen Ära
künden, sie aber noch nicht herbeiführen. Das bleibt Achill Vorbehalten. Der
kann sich als herakletscher Held in den Kinderschuhen in freier Entgegensetzung
von Körper und Geist, von vita activa und vita contemplativa, auf das Ende vor
bereiten.
Hölderlin verarbeitet mit der kentaurisch-paulinischen Konstruktion des
Gedichts die prekäre Lage des hesperischen und modernen Dichters. Mit Chiron
läßt Hölderlin seine lyrische persona noch tragisch scheitern; die mythisierten Ich-
facetten in der Gesamtanlage der Ode lassen aber Lösungen des „kentaurischen“
Problems zu. Prometheus, Herakles und Achill verkörpern solche Hypostasen des
kentaurischen Ichs entweder als dessen überwundene Phasen oder als mythische
Wunschidentitäten. In kunstvoller Abstufung ihrer Präsenz treten die drei Helden
dabei ins mythische Bild und lyrische Bewußtsein: Abwesend im Sinne von
„vergangen“ und „überwunden“ ist Prometheus, der die reine Hybris inkarniert als
eine Existenz- und Reflexionsstufe, die Chiron (als alter ego Hölderlins) mit dem
Scheitern des Empedokles, Alabandas oder Eduards längst hinter sich gelassen hat.
Konsequent bleibt der Name des hybriden Schöpferhelden im Verlaufe des Ge
dichtes auch ungenannt und wird nur durch die Mythenkonstellation angedeutet.
Abwesend im Sinne von „ausstehend“ ist Herakles, die heroische Auskoppelung al
ler kriegerischen und politisch-messianischen Wunschphantasien, die der sieche
Kentaur selbst nicht mehr in die Tat umsetzen kann. Herakles wird präfiguriert
durch Achill; folgerichtig gilt auch Chirons berühmtestem Schüler (und
Hölderlins Lieblingshelden) Achill die Klimax des Gedichts. Das athletisch
ästhetische Erziehungsprojekt, das der große Weise in der letzten Strophe
prophezeit, bleibt damit nur Interimslösung. Individuelle und universelle Eschato
logie werden verwoben, Kunst und Erziehung sind hier kein Kompensat, sondern
Vorstufe für die endgültige Veränderung der Welt. Damit wendet sich Hölderlin
fundamental gegen Schiller oder Lessing und ihren rein „pädagogischen Idealis
mus“ (Taubes 1991: 74).
Die Schwellenfunktion des sagenhaften Kentauren stellt ihn im übrigen den
großen Mittlergestalten wie Hermes oder Charon an die Seite. Unvergeßlich
Goethes Chiron in der „Klassischen Walpurgisnacht“, wo der Kentaur als
Kundiger der Furten und williger „Uber-Setzer“ zwischen den Ufern und Sphären
fungiert (Faust II, 733Iff.). Dieser Vorstellung folgt auch Hölderlin in seinem Pin-
darfragment ‘Das Belebende’ mit der Gleichsetzung von „Begriff des Centauren“
und „Stromgeist“ (KHA II: ZZ. 13-17). Auch der Chiron, dem Dante und Vergil
bei ihrem Abstieg zum siebten Höllenkreis begegnen, hat eine Mittlerfunktion. Er
erkennt die beiden Dichter als Lebende, beschwichtigt Nessus und seine blutrün
f/nsterblichen [...] (V. 115) - doppelte oder parallele Negation: „Nichts vor dir, / Nur Eines
weiß ich. Sterbliches bist du nicht.“(yV. 20f.); „Von heute aber nicht, nicht ««verkündet ist
er“ (V. 25); „Der Allversammelnde, wo Himmlische nicht, / Im Wunder offenbar, noch
««gesehn im Wetter [...] (VV. 103f.).