Page 46 - Robert Charlier: Google statt Goethe?
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prall. Tatsächlich prägte Huntington selbst im Verlaufe seiner Argumentation
               den Topos vom ›Krieg (der Kulturen)‹ und entwickelte darauf basierend seine
               Zentralthese von einem Antagonismus der Weltkulturen. Huntingtons Thesen
               stehen aber nicht nur im Gegensatz zu den sogenannten Eine-Welt-Theorien,
               die − wie z. B. die Systemtheorie − in den europäischen Geschichts- und Sozi-
               alwissenschaften dominieren. Immer wieder wurde Huntingtons Formel auch
               zum Gegenstand polemischer Widerlegungsversuche aus multikulturali stischer
               Sicht (→»Civilizations«). Die kriegerische Akzentuierung der Formel vom
               ›Kampf der Kulturen‹ hat dem Topos vom ›Clash‹ dabei in ähnlicher Weise
               zu einer erfolgreichen Begriffskarriere verholfen wie das bei einem älteren
               Klassiker der Kultur-philosophie der Fall war. So wurde der Schlüsselbegriff
               von Oswald Spenglers Schrift Der Untergang des Abendlandes. Umrisse
               einer Morphologie der Weltgeschichte (2 Bde.; 1918/22) in vergleichbarer
               Weise missverstanden im Sinne eines katastrophalen Untergangs. In seinem
               Hauptwerk warnte Spengler jedoch keineswegs vor einem Untergang Europas
               in der Art der Titanic-Katastrophe. Vielmehr zielte der Titelbegriff auf einen
               allmählichen Prozess des Übergangs von der (abendländischen) Kultur zu
               einer weltumspannenden (preußisch-imperialen) Zivilisation.




                                            »Culture«

                                        →»Civilizations«




                                         »Culturomics«

                  Der Begriff bildet eine Synthese aus engl. culture und dem Kunstwort
               »Genomics« zur Bezeichnung des von Craig Venter begründeten Projekts zur
               Entschlüsselung des menschlichen Genoms als Träger sämtlicher Erbinforma-
               tionen. Wie kaum ein anderes naturwissenschaftliches Vorhaben sorgte
               jenes Unternehmen zum letzten Jahrtausendwechsel für weltweite Schlag-
               zeilen. Unter An spielung auf dieses Jahrhundertprojekt prägte deshalb eine
               interdisziplinäre Wissenschaftlergruppe um Jean-Baptiste Michel und Erez
               Lieberman Aiden von der Harvard University den Kunstbegriff Culturomics,
               um in der renom mierten Zeitschrift Science zum Ende des Jahres 2010 ein
               angeblich ebenso grundstürzendes Projekt zu annoncieren. Der genaue Titel



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