Page 51 - Robert Charlier: Google statt Goethe?
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Quantität weiterentwickelt. Allerdings gilt gerade für formal wie inhaltlich
gelungene Artikeleinträge, dass sie vermutlich nicht einer überindividuellen
Schwarm-Intelligenz zu verdanken sind, sondern am Ende doch auf die indi-
viduelle Fachkompetenz eines einzelnen Experten zurückgehen. Ein Beispiel
dafür bildet der Artikel über den Philosophen Ludwig Feuerbach. Für seine
Verdienste als Autor des entsprechenden Eintrags in der deutschsprachigen
Ausgabe des Internetlexikons wurde der Feuerbachspezialist Josef Winiger
im Jahr 2007 mit der Johann-Heinrich-Zedler-Medaille ausgezeichnet.
Deskriptivität
In der kulturwissenschaftlichen Kanonforschung dominieren deskriptive,
d. h. ›beschreibende‹ Ansätze und Methoden. Kanonisierungsphänomene
werden also auf ihre Beschreibbarkeit, ihre phänomenologische Besonder-
heit oder Einzigartigkeit untersucht. Im Mittelpunkt beschreibender Kanon-
forschung stehen die Würdigung einzelner Autoren und die Darstellung spezi-
fischer Phä nomene in Literatur, Deutschunterricht und Philologie. So ist z. B.
die hand lungsorientierte literarische Wertungstheorie nach Renate von Heyde-
brand und Simone Winko primär deskriptiv (von Heydebrand/Winko 1996;
s. in der Bibliografie, unter Punkt A.II.1). Aus literaturwisenschaftlicher Sicht
erlaubt die beschreibende Analyse den Vergleich mit Betrachtungen aus der
Perspektive anderer Disziplinen wie Geschichts-, Religions- oder Kunst-
wissenschaft. Deskriptive Ansätze gehen von folgender Prämisse aus: Erst
durch die Beschreibung von Kanonphänomenen kann man normative Gesetz-
mäßigkeiten und Regeln ableiten, theoretisch erklären und möglicherweise
auch zutreffend ›vorhersagen‹ (↔Normativität).
Dioskurentopos
In der deutschen Literaturgeschichtsschreibung und der bildenden Kunst
des 19. Jahrhunderts existierte die Vorstellung vom genialen männlichen
Kritiker- oder Dichterpaar, das gerne als Wiedergeburt des halbgöttlichen
Brüderpaares der ›Dioskuren‹ bezeichnet und dargestellt wurde. Seit der
klassischen Antike galten die Zwillinge Castor und Pollux als In begriff
unzertrennlicher Freundschaft. In der antiken Mythologie verkörpern Kastor
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