Page 49 - Robert Charlier: Google statt Goethe?
P. 49
auch Phasenverschiebungen bei Aufstieg, Höhepunkt (»peak«) und Abstieg
berühmter Per sönlichkeiten aus Kulturleben und Zeitgeschichte (Michel et al.
a. a. O., S. 180f.). Schauspieler, Künstler, Schriftsteller, Politiker, Biologen,
Physiker und Mathematiker werden auf diese Weise auf ihre Kanonkarriere
im kulturellen Gedächtnis untersucht.
So ergeben sich überraschende Hypothesen. Mit Blick auf ihr Lebens-
alter werden Schauspieler demnach mit etwa 30 Jahren vergleichsweise
›früh‹ bekannt bzw. berühmt, wogegen Schriftsteller erst in ihren Vierzigern
zu Ansehen gelangen. Am spätesten, nämlich in der Regel erst als über
50-Jährige, sichern sich Politiker Ruhm und gesellschaftliche Ehrun gen
(Michel et al. a. a. O., S. 181). Methodisch berücksichtigen die Autoren sogar
den Aspekt negativer Kanonisierung eines prominenten Namens, etwa durch
Unterdrückung, Indexierung oder Zensur (»Detecting Censorship and Suppres-
sion«; ebd.). Einer der Höhepunkte dieser Darstellung, die die Aussagekraft
des schieren Zahlenbefunds zum reinen ›Datenfaktum‹ zuspitzt, bildet die
entsprechende Graphik zu Marc Chagall (»Figure 4A«; ebd. S. 180):
»Suppression − of a person, or an idea − leaves quantifiable fingerprints […] . For
instance, Nazi censorship of the Jewish Marc Chagall is evident by comparing
the frequency of ›Marc Chagall‹ in English and in German books (Fig.4A). In
both languages, there is a rapid ascent starting in the late 1910s (when Chagall
was in his early 30s). In English, the ascent continues. But in German, the artist’s
popularity decreases, reaching a nadir form 1936-44, when his full name appears
only once.« (In contrast, from 1946-1954, ›Marc Chagall‹ appears nearly 100
times in German corpus.) (Michel et al. a. a. O., S. 181)
Bei der Wiedergabe dieser ausgewählten Beispiele ist kritisch anzumerken,
dass das Autorenteam um Michel und Aiden ihre statistischen Auswertungen
und semantischen Interpretationen als absolute Aussagen vorbringen. Der
Hypothesencharakter ihrer Rückschlüsse erscheint stellenweise nicht aus-
reichend gekennzeichnet. Teilweise umschreiben die Verfasser der Studie
auch Gemeinplätze oder erwartbare Selbstverständlichkeiten mit viel korpus-
linguistischem Aufwand. Für die Begrenzung ihrer Datengrundlage und die
stets zu relativierende Reichweite ihres Aussagehorizonts erscheint dagegen
folgende Tatsache zentral.
45