Page 50 - Robert Charlier: Google statt Goethe?
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In jede Ergebniskurve für ein Wort oder Begriffspaar, die mit dem »Google
Labs Books NgramViewer« generiert wird, fließen ›lediglich‹ diejenigen
Text daten ein, die auch in gedruckten Büchern publiziert worden sind.
So blieben z. B. Periodika, Zeitschriften oder die Tagespresse im Korpus unbe-
rücksichtigt. Bei aller vermeintlich erdrückenden Macht der schieren Masse
von Textbelegen bleibt zu bedenken, dass immer noch erhebliche Teile des
gedruckten sprachlichen Kulturerbes von Googles Digitalisierungs initiative
nicht erschlossen wurden. Strenggenommen ist sogar in Anschlag zu bringen,
dass die alleinige Konzentration auf das in Büchern gedruckt vor liegende
Wort eine Einschränkung darstellt, die zumindest methodisch an gemerkt zu
werden verlangt. Kollektives Bewusstsein und kulturelles Gedächtnis sind
sicherlich komplexer zu denken, und es bleibt fraglich, ob die Auswertung
ihrer bloßen Teilspiegel bilder in Form von Druckwerken für eine gültige
Diagnose ausreichen. Mit Blick auf die Ermittlung möglicher Gesetzmäßig-
keiten der litera rischen Kanonbildung verspricht die mengenbezogene Analyse
möglichst großer Textkorpora dennoch einen zumindest bedenkenswerten
Erkenntnisgewinn für die Zu kunft (→Ideometrie).
»Darwikinism«
Der Begriff bildet eine Analogie zu engl. Darwinism (Darwinismus)
und stellt den Versuch dar, evolutionäre Vorstellungen auf den Vorgang der
Kanonisie rung von Menschheitswissen zu übertragen. Im Mittelpunkt stehen
dabei die redaktionellen Stufen der Überarbeitung und Modifikation von Text-
artikeln durch die Autoren und Administratoren der freien Online-Enzyklo-
pädie Wikipedia. In den begleitenden Diskussionstexten zum gleichnamigen
Artikel irritiert dabei zunächst die platte Gleichsetzung von Arbeitsprinzipien
des Wikipedia-Projekts mit eher trivialdarwinistischen Schlagwörtern wie
»Darwinistic pressures between different authors« oder »selective pressure«
sowie pseudo-evolutionistische Bezeichnungen wie »selecting agents« (für
Beiträger) oder »natural selection« (für die Entstehung von Stichwortarti-
keln; hier zitiert nach der Druckfassung des Artikels ›Darwikinism‹ in der
englischsprachigen Ausgabe der Wikipedia mit Stand bei Drucklegung).
Andererseits frappiert die quasi evolutive Effizienz, mit der sich umfangrei-
ches Fakten wissen aus so gut wie allen Themenbereichen im Rahmen einer
interaktiven Online-Enzyklopädie zu teilweise erstaunlicher Qualität und
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