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Entkanonisierung


                  Entkanonisierung bedeutet (1.) völliger Verzicht auf die Festlegung
               bestimmter (literarischer) Autoren, Werke, Texte, Gattungen oder Epochen als
               Bestandteil des kulturellen Gedächtnisses; oder (2.) Öffnung tradierter Kanons
               für vergessene Autoren bzw. die Werke und Schriften von sozial disprivile-
               gierten Gruppen, wie beispielsweise die sogenannte Frauenliteratur, die Werke
               von einstmals verfemten Dichtern, Exilautoren oder literarischen Vertretern
               ethni scher Minderheiten, wie z. B. jüdischer Autoren im deutschsprachigen
               Sprachraum oder latein- bzw. afroamerikanischer Autoren in Nordamerika.
               Entkanonisierung ist (3.) unauflöslich verbunden mit einer Überwindung kon-
               servativer Ansichten und Theorieschulen (Immanenz, New Criticism) durch
               moderne und postmoderne Theorieströmungen. Dazu zählen beispielsweise
               die Psychoanalyse, der sogenannte Kontextualismus, die Genderforschung
               oder die Postcolonial Studies. Im deutschsprachigen Wissenschaftsbetrieb
               gingen diese Denkschulen teilweise in den Kulturwissenschaften auf.



                                               Erbe


                  Die Begriffe ›Erbe‹ und ›Vererbung‹ verknüpfen geistes- und naturwis-
               senschaftliche Theoriebildung. Eine Vermittlerrolle übernehmen dabei die
               Vertreter der sogenannten Kulturellen Evolution. Diese Ansätze beschäfti gen
               sich mit der möglichen Übertragbarkeit von Terminologie und Kategorien aus
               der allgemeinen oder speziellen Evolutionstheorie auf kulturelle Prozesse.
               Ihnen liegt die An nahme zugrunde, dass sich die Gesetzmäßigkeiten von
               naturgeschichtlichen Vererbungsprozessen im Verlaufe von Jahrtausenden
               oder Jahrmillionen mit kulturellen Tradierungsphänomenen vergleichen lassen,
               wobei sich diese histo rischen Vererbungsprozesse in kulturgeschichtlichen
               Zeiträumen abspielen. Die prominenteste Analogiebildung dieses Denkansatzes
               ist die Analogie von ›Gen‹ und ›Mem‹. Die Begriffsbildung Mem ist dabei
               (nach Richard Dawkins) ein Kunstwort aus lat. memoria für: Erinnerung,
               und altgriech. Mimen, verwandt mit Mimesis für: Imitation, Nachahmung,
               auch: Ähnlichmachung oder Ähnlichwerdung. Insgesamt ergibt sich also die
               Bedeu tung: ›kulturelle Vererbung durch Erinnerung‹. Evolutionstheoretisch
               gesprochen, handelt es sich bei Gen und Mem um sogenannte Replikatoren.
               Ein Replikator ist eine endliche Menge von Erbinformationen (oder eben



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