Page 54 - Robert Charlier: Google statt Goethe?
P. 54
Entkanonisierung
Entkanonisierung bedeutet (1.) völliger Verzicht auf die Festlegung
bestimmter (literarischer) Autoren, Werke, Texte, Gattungen oder Epochen als
Bestandteil des kulturellen Gedächtnisses; oder (2.) Öffnung tradierter Kanons
für vergessene Autoren bzw. die Werke und Schriften von sozial disprivile-
gierten Gruppen, wie beispielsweise die sogenannte Frauenliteratur, die Werke
von einstmals verfemten Dichtern, Exilautoren oder literarischen Vertretern
ethni scher Minderheiten, wie z. B. jüdischer Autoren im deutschsprachigen
Sprachraum oder latein- bzw. afroamerikanischer Autoren in Nordamerika.
Entkanonisierung ist (3.) unauflöslich verbunden mit einer Überwindung kon-
servativer Ansichten und Theorieschulen (Immanenz, New Criticism) durch
moderne und postmoderne Theorieströmungen. Dazu zählen beispielsweise
die Psychoanalyse, der sogenannte Kontextualismus, die Genderforschung
oder die Postcolonial Studies. Im deutschsprachigen Wissenschaftsbetrieb
gingen diese Denkschulen teilweise in den Kulturwissenschaften auf.
Erbe
Die Begriffe ›Erbe‹ und ›Vererbung‹ verknüpfen geistes- und naturwis-
senschaftliche Theoriebildung. Eine Vermittlerrolle übernehmen dabei die
Vertreter der sogenannten Kulturellen Evolution. Diese Ansätze beschäfti gen
sich mit der möglichen Übertragbarkeit von Terminologie und Kategorien aus
der allgemeinen oder speziellen Evolutionstheorie auf kulturelle Prozesse.
Ihnen liegt die An nahme zugrunde, dass sich die Gesetzmäßigkeiten von
naturgeschichtlichen Vererbungsprozessen im Verlaufe von Jahrtausenden
oder Jahrmillionen mit kulturellen Tradierungsphänomenen vergleichen lassen,
wobei sich diese histo rischen Vererbungsprozesse in kulturgeschichtlichen
Zeiträumen abspielen. Die prominenteste Analogiebildung dieses Denkansatzes
ist die Analogie von ›Gen‹ und ›Mem‹. Die Begriffsbildung Mem ist dabei
(nach Richard Dawkins) ein Kunstwort aus lat. memoria für: Erinnerung,
und altgriech. Mimen, verwandt mit Mimesis für: Imitation, Nachahmung,
auch: Ähnlichmachung oder Ähnlichwerdung. Insgesamt ergibt sich also die
Bedeu tung: ›kulturelle Vererbung durch Erinnerung‹. Evolutionstheoretisch
gesprochen, handelt es sich bei Gen und Mem um sogenannte Replikatoren.
Ein Replikator ist eine endliche Menge von Erbinformationen (oder eben
50