Page 52 - Robert Charlier: Google statt Goethe?
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und Polydeukes − so die altgriechischen Namensformen − die sagen hafte
               Manifestation eines ›eineiigen‹ Zwillingspaares. Ihre schöne und begehrte
               Mutter Leda wurde nämlich dem Mythos zufolge von ihrem Ehemann Tyn-
               dareus und dem Schwerenöter Zeus zum gleichen Zeit punkt schwanger.
               Da sich Zeus ihr in Gestalt eines Schwanes näherte, gebar Leda zwei Eier.
               Davon soll das eine den Kastor und Pollux, das andere aber Klytemnästra
               und Helena hervorgebracht haben. Pollux und Helena stammten demnach
               vom unsterblichen Göttervater Zeus ab, während Kastor und Klytemnästra
               als Kinder des sterblichen Vaters angesehen wurden.


                  Im antikeverliebten neunzehnten Jahrhundert wurde das Bild der wie
               Götter verehrten »Dioskuroi« − also wörtlich der »Söhne des Gottes« oder
               »des Göttlichen« (d. h. des Zeus, im Altgriechischen auch Dios, daraus lat.
               divus) − zum beredten Topos für das kongeniale Zusammenwirken zweier
               bedeutender Geister. Aber nicht nur Literaturhistoriker stilisierten die geistige
               Freundschaft zwischen Goethe und Schiller zur ›dioskurischen Gemeinschaft‹.
               Auch bei den klassischen Dichtern selbst erfreute sich das Dioskurenbild großer
               Beliebtheit. So galten die Ro mantiker August Wilhelm und Friedrich Schlegel
               schon zur Goethezeit als »Dioskuren der Kritik«. Auch Goethe und Schiller
               verwendeten das Bild im emphatischen Sinne zur Stilisierung poetischer
               Verwandtschaft (→Zwillingsmetapher). So äußerte Goethe über Wieland:

                  »An einem solchen Manne [Shaftesbury; Anm. R. C.] fand nun unser Wieland nicht
                  einen Vorgänger, dem er folgen, nicht einen Genossen, mit dem er arbeiten sollte,
                  sondern einen wahrhaften älteren Zwillingsbruder im Geiste, dem er vollkommen
                  glich, ohne nach ihm gebildet zu sein; wie man denn von Menächmen [nach
                  Plautus Name zweier zum Verwechseln ähnlicher Zwillingsbrüder; Anm. R. C.]
                  nicht sagen könnte, welcher das Original, und welcher die Copie sei.« (Weimarer
                  Ausg. I. Abt., Bd. 36, 1893, S. 323; Zu brüderlichem Andenken Wielands, 1813
                  − Hervorhebungen R. C.)


                  Die dioskurische Freundschaft und enge literarische Zusammenarbeit der
               beiden ›Zeussöhne‹ Goethe und Schiller kulminierte im Weimarer ›Schlüssel-
               jahrzehnt‹ von 1794 bis 1805. Die beiden Eckdaten markieren die offiziell
               gewordene Erstbegegnung der beiden Dichter in Jena und den schicksalhaft
               frühen Tod Schillers. Allerdings waren sich die beiden schon einmal über den
               Weg gelaufen, wenn gleich noch ohne produktive Folgen für die Literatur-
               geschichte. Spricht man im Übrigen vom wichtigsten ›Jahrzehnt‹ der ›Wei-



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