Page 55 - Robert Charlier: Google statt Goethe?
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von tradierbaren bzw. tradierten Ideen), deren einziger evolutiver Sinn in der
               eigenen Vermehrung bzw. Fortpflanzung über die Zeit hinweg besteht. Dabei
               kommt es zu Abweichungs- und Anpassungsschritten, die wiederum dazu
               dienen, das Fortleben bzw. die Überlieferbarkeit dieser genetisch-mimetischen
               Information zu garantieren und zu optimieren.

                  Der Begriff des ›Fortlebens‹ scheint hier auch aus geisteswissenschaftlicher
               Sicht adäquat. So lautete z. B. die deutsche Übersetzung von Jean Seznecs
               Standardwerk über die Rezeption der antiken Mythologie in der Kunst und
               Ikonografie der Renaissance »Das Fortleben der antiken Götter« (1990;
               engl. zunächst als The survival of the pagan gods, 1953; im Original La
               survivance des dieux antiques. Essai sur le rôle de la tradition mythologique
               dans l’humanisme et dans l’art de la Renaissance, 1940). Die begrifflichen
               Entspre chungen Fortleben/Survival bzw. Tradition/Vererbung markieren in
               etwa die Reichweite dieses Vergleichs. Was die Gene in der biologischen
               Natur geschichte darstellen, verkörpern die Meme auf kultureller Ebene. Eine
               menschliche Kultur ist dieser Definition gemäß die Summe aller in Artefakten
               oder Texten materialisierten Ideen oder gleichsam gespeicherten Informatio-
               nen eines übergenerationellen Kollektivs von Subjekten. Dabei erscheint der
               Evolutionsbegriff auf die biologische Evolution verkürzt. Die Geschichte der
               Gene ist innerhalb der physikochemischen Entwicklung des Lebens auf der
               Erde nämlich noch vergleichsweise jung. Außerdem werden physika lische und
               genetische Modifikationsprozesse leichtfertig mit symbolischen, sprachlichen
               und sozialen Formen der Tradierung gleichgesetzt.


                  Der Übergang dieser Theorien zu unzulässigen Verallgemeinerungen sowie
               zu esoterischen und definitiv unseriösen Ansätzen ist fließend. Allerdings
               haben prominente – auch selbst wiederum umstrittene – Kulturevolutionisten
               auf die grundsätzliche Fragwürdigkeit einer uneingeschränkten Gleichsetzung
               von Kultur und Evolution hingewiesen. Außerdem ist bei vergleichenden
               An wendungen von evolutiven Begriffen sehr fein zu unterscheiden, so
               beispiels weise mit Blick auf den Begriff der Selektion zwischen (1.) rein
               zufälliger − kontingenter − Selektion (nach Charles Darwin) und (2.) der
               zielgerichteten Auswahl oder gleichsam ›intentionalen Anpassung‹, wie sie
               u. a. auf die Lehren von Jean-Bapstiste de Lamarck (1744-1829) zurückgeht.







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