Page 56 - Robert Charlier: Google statt Goethe?
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Mit Blick auf die Frage nach evolutionärer Kanonbildung hat der Hamburger
Erziehungswissenschaftler Alfred K. Treml erste Ansätze für eine umfassende
theoretische Reflexion vorgelegt. In seinem Entwurf einer ›Klassikertheorie‹
verbindet Treml Grundgedanken der allgemeinen Evolutionstheorie, die Vor-
stellung von ›kultureller‹ Evolution und Elemente der sozialwissen schaftlichen
Systemtheorie (Treml 1997/1999; 2005).
Evolution
Unter dem Einfluss von frz. évolution wohl neulateinische, terminolo-
gisch gewordene Substantivierung aus (klassisch) evolvo, evolvi, evolūtus
im Sinne von evolutio: das Aufrollen, Aufwickeln (von Schriftrollen, den
›Büchern‹ der Antike) zu volvere: drehen, rollen und dem lat. Affix e(x)-. Der
aus dem Lateinischen abgeleitete Begriff Evolution ist älter als die mit ihm
sprachlich kanonisierte Theorie aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts
(→Evolutionstheorie; Darwinismus). So wird das Wort zur Goethezeit bereits
in einem vorterminologischen Sinne verwendet, und zwar mit Bezug auf die
zeitgenössische Präformationslehre. Der Gebrauch des Wortes ›Evolution‹
ist bei Goethe selbst insgesamt allerdings noch sehr selten. Die Präformati-
onslehre, auch bereits Präformationstheorie oder »Evolutionslehre« genannt,
ging ursprünglich auf den griechischen Vorsokratiker Anaxagoras zurück und
blieb bis ins 18. und 19. Jahrhundert lebendig. So glaubten die Anhänger und
Vertreter dieser entwicklungsbiologischen Theorie, dass alle Organismen
entweder im Ei oder im Spermium vollständig vorgebildet (»präformiert«)
seien. Vgl. dazu grundlegend: Georg Toepfer: (Artikel) Evolution. In: ders.:
Historisches Wörterbuch der Biologie. Geschichte und Theorie der biologi-
schen Grundbegriffe. Bd. 1 (Stuttgart; Weimar) 2011, S. 481-539.
Evolutionstheorie
Der Begriff bezeichnet zunächst die von Charles Darwin (1809-1882)
maß geblich in seinen Schriften On the Origin of Species (1859) und The
Descent of Man and Selection in Relation to Sex (1871) begründete Theorie
der natürlichen Selektion innerhalb der biologischen Artenbildung. Wichtig
dabei ist, dass Darwin die begriffliche Übertragung des Evolutionsgedankens
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